Herzraub
den USA. Man benötige einerseits die Betten der permanent Bewusstlosen und andererseits Spenderorgane. Das steht da ganz unverblümt drin. Bei der Todesdefinition von Harvard war allerdings noch das Rückenmark einbezogen, d.h. der als ›tot‹ Bezeichnete musste völlig reglos sein. Das waren also noch etwas totere Tote. Heute darf der potenzielle Spender – und das gilt weltweit – noch Reflexe haben. Der Mann 17, die Frau 14. Seit 1997 haben wir in Deutschland ein Transplantationsgesetz, da können Sie alles nachlesen.“
„Ich bin fasziniert, Ihr Buch wird sicher ein Bestseller.“ Danzik blickte sie bewundernd an und schmeckte genießerisch der Tomatensauce nach.
Laura Flemming lächelte. „Ich bin froh, dass es Ihnen nicht den Appetit verschlagen hat.“
„Keine Sorge. Erzählen Sie ruhig weiter. Wie stellt man denn nun den Hirntod fest?“
„Man kneift, sticht, blendet, schüttet Eiswasser in die Ohren, ruckelt am Tubus. Das Ganze nach zwölf Stunden noch mal, um sicherzugehen, dass es keine Reaktionen mehr gibt. In dieser ›Schwebezeit‹ wird der Patient weiter wie ein Intensivpatient versorgt: waschen, Zähne putzen, ernähren, entleeren, lagern. Ergänzend kann man mit Apparaten prüfen: Hirnkurven mit EEG, Durchblutung mit Angiographie, Doppler-Sonographie oder Szintigramm.“
„Und wenn das alles sozusagen null ergibt, dann ist der Mensch tot?“
„Nur das Gehirn, also Großhirn und Stammhirn, das sind drei Prozent des Körpers. Und ob dabei, wie gefordert, sämtliche Hirnfunktionen total erloschen sind, lässt sich mit heutigen Verfahren und Geräten gar nicht nachweisen. Das EEG zum Beispiel misst nur drei Millimeter unterhalb der Hirnrinde. Außerdem hat man festgestellt, dass das EEG sogar noch nach über 30 Stunden erneut eine Aktivität anzeigte. Solange aber Gehirnaktivität da ist, kann der Mensch auch noch Schmerzen empfinden.“
„Hmm.“ Danzik nahm sich ein Stück Brot, ohne es zu essen. „Aber er ist unumkehrbar auf dem Weg zum Tod.“
„Ja! Meistens jedenfalls.“ Laura Flemming beugte sich vor. In ihrem Blick lag eine Leidenschaft, die ihn überraschte. „Aber 97 Prozent des Körpers leben! Herr Hauptkommissar, können Sie sich vorstellen, verliebt zu sein?“
„Natürlich. Ich glaube, ich bin es gerade.“
„Na, also. Lieben Sie vielleicht nur das Gehirn Ihrer Freundin? Ich denke, Sie sind von der ganzen Gestalt, vom Gesicht, vom beseelten Ausdruck verzaubert.“
„Das haben Sie wunderschön gesagt.“ Danzik ergriff ihre Hand. Beinahe hätte er seine Lippen darauf gedrückt, aber er beherrschte sich.
„Danke.“ Laura Flemming zog ihre Hand zurück und nahm, wie um sich neu zu erfrischen, einen Schluck Wein. „Dieses westliche, verkopfte Denken findet man speziell bei den Männern!“
„Dann erlösen Sie mich doch von diesem rationalen Übel. Bitte erklären Sie mir das Ganze.“
Über ihre Züge flog ein belustigter Zweifel. „Also, gut. Wir sind, unter anderem, ein einziges großes Nervensystem. Gehirn, Rückenmark, vegetative Funktionen – alles hängt zusammen. Jetzt packen wir unsere ach so tollen höheren Leistungen wie Denken, Gedächtnis, Bewusstsein, Sprache usw. einfach nur unter die Schädeldecke ins Großhirn. Und das ist Quatsch. Unser Bewusstsein zum Beispiel könnte sich gar nicht realisieren, wenn es nicht vom Hirnstamm, also dem für die unbewussten Funktionen verantwortlichen Gehirnteil, aktiviert würde …“
„Ich fürchte, jetzt überfordern Sie mich. Das ist ja schon die reinste Medizinvorlesung.“
„Aber Herr Hauptkommissar …“
„Sagen Sie doch einfach Danzik zu mir.“
„Gern.“ Laura Flemming lächelte gewinnend. „Also, Herr Danzik – Sie, ein Mann der Logik – werden es sofort verstehen. Alles in uns ist beweisbar vernetzt. Der Mensch ist ein Ganzes.“
„Wie wahr.“ Der Kommissar ließ seinen Blick diskret von ihren tiefblauen Augen über ihren Brustansatz bis zu den schlanken Händen gleiten.
„Sie kennen die Geschichte von Störtebeker?“
„Natürlich.“
„Er wurde enthauptet, und sein kopfloser Körper lief noch an seinen Kumpanen vorbei. Gehirntod“, fuhr die Journalistin unbeirrt fort, „ist nur ein Partialtod. Alles Übrige lebt. So werden Komapatienten zu Toten gemacht. Ich sage Ihnen mal, was alles lebt: Der Patient ist warm und durchblutet, Herz und Kreislauf funktionieren, auf Zellebene atmet er noch selbstständig, er verdaut, scheidet Urin aus, bewegt sich spontan und ist hormonell
Weitere Kostenlose Bücher