Herzraub
herankommen.
„Mein Gott!“ Heiner Wentorf brachte nur diese beiden Worte hervor.
„Nein, das ist nicht mein Sohn!“ Claus Saalbach war an die Wand geflohen und suchte Halt an seinen eigenen Händen. „Nein, das ist nicht mein Sohn“, wiederholte er. „Das ist nicht mein Sascha.“
Heiner Wentorf wagte einen zweiten Blick auf den Toten. Tatsächlich schien hier ein Fremder zu liegen, entstellt, verunstaltet zu einem Wesen Frankenstein’scher Ausmaße. Natürlich lag er in wächserner Blässe da, das konnte man erwarten, aber das war es nicht allein …
„Du solltest jetzt Abschied nehmen“, sagte Heiner Wentorf und lockerte seine Krawatte.
Claus Saalbach näherte sich langsam dem Sarg, immer wieder schüttelte er verzweifelt den Kopf. Dann zwang er sich, das ganze Ausmaß der Beschädigung anzuschauen, das den Menschen Alexander Osswald zum Ausweideobjekt gemacht hatte: Leere Augenhöhlen starrten ihn an, so totenhaft, als ließe sich der Tod noch steigern. Die Zunge hing heraus, an den Armen und Händen steckten noch die Kanülen, ein grob vernähter Schnitt zog sich vom Kinn bis in das weiße, kurzärmlige Hemd hinein.
„Aber er sieht ja wie ein Greis aus“, stammelte Claus Saalbach. „Und sein blondes Haar ist ganz weiß geworden.“
Heiner Wentorf legte ihm die Hand auf den Arm. „Vielleicht sollten wir jetzt gehen.“
„Irgendwie ist er auch kleiner geworden. Schau mal, er ist ganz eingefallen.“
„Das ist bei Toten immer so. Das ist normal.“
„Wieso?“
„Das weiß ich nicht. Ist aber so. Jetzt quäl dich nicht länger.“
„Doch, ich werde mich quälen“, sagte Claus Saalbach und sah seinen Freund entschlossen an. „Was sind diese zehn Minuten gegen das, was Sascha durchlitten hat?“
Er blickte noch einmal in das fremde, verzerrte Gesicht. Es drückte weder Frieden noch Ruhe aus. Es sah gepeinigt aus, als hätte ein Mensch den schlimmsten Todeskampf durchlebt. Vom Gesicht glitt Saalbachs Blick noch einmal zum Hals hinunter.
„Das Kettchen ist nicht mehr da! Sie haben ihm das Kettchen genommen!“
„Was für ein Kettchen?“, fragte Wentorf.
„Eine Halskette aus Gold. Auf der Intensivstation habe ich sie ihm umgelegt. Du warst doch dabei. Als Talisman für seine letzte Reise.“
„Unfassbar.“
„Warte noch einen Moment.“ Claus Saalbach legte die Hände übereinander und schloss die Augen. Schweigend verharrten sie am Sarg, bis Saalbach das Zeichen zum Aufbruch gab.
Am Ausgang der Trauerhalle trafen sie auf Herrn Busse, der ihnen mit unbehaglicher Miene entgegensah. Offensichtlich wusste er nicht, wie er reagieren sollte, deshalb sagte er noch einmal „Mein herzliches Beileid“.
„Danke“, erwiderte Claus Saalbach. Er überlegte, ob man einem Bestatter die Hand gab, unterließ es aber und wandte sich zum Gehen.
Wie ein Schlafwandler schwankte er auf ihr Auto zu, während Heiner Wentorf vernehmlich die frische Luft einsog.
Torsten Tügel saß am Schreibtisch, wickelte sein Brot aus dem Papier und begann zu essen.
„Muss das sein?“ Danzik, der ihm gegenüber saß, blickte auf.
„Was?“
„Na, dass du aus dem Papier isst. Und dann dieser angenagte braune Keramikbecher.“
„Du hast komische Sorgen.“ Tügel kaute gleichmütig weiter.
„Stimmt.“ Danziks Laune war wieder mal potenzierter Missmut, weil er in der Sache ›Celia Osswald‹ einfach nicht weiterkam. Die üblichen Verdächtigen waren mit Beweisen nicht zu greifen, und vor einem tieferen Einstieg in die Organ-Szene graute ihm. Die Weißkittel mauerten, und der ganze Aufwand würde vielleicht nur damit enden, dass man einem Phantom hinterher jagte.
Danzik ging zum Bord hinüber. Anständiges Porzellan hob die Laune, wenn auch nur um Minigrade. „Hier, hab ich neulich für uns gekauft. Villeroy & Boch.“ Er zeigte auf ein weißes Geschirr mit grünem geometrischem Dekor.
„Wow! So was Feines?“
„Quatsch. Ist doch nur Gebrauchsgeschirr.“ Danzik ging zur Kaffeemaschine und füllte sich den Porzellanbecher. „Hast du das Alibi der Kanitz-Familie überprüft?“
„Ja, hab ich. Ist alles wasserdicht. Und was passiert nun?“
Als Antwort schrillte das Telefon. „Danzik, Mordkommission zwei. – Ah, Frau Imhoff. – Was, Sie können den Namen nicht wieder finden?“ Der Kommissar gab seinem Kollegen ein Zeichen, und der schaltete die Mithöranlage ein. „Ja, das ist sehr bedauerlich. Sie wissen aber, wann der Drohanruf erfolgte? – Zwei Monate nach der Transplantation.
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