Herzraub
in ihren Augen sah, und zugleich fühlte er, wie sich diese Wut in ihm selbst ausbreitete.
„Ich würde gern wissen, wer Alexanders Herz bekommen hat.“
„Warum wollen Sie das wissen? Wollen Sie sich daran erfreuen, dass es dem Empfänger so blendend wie nie geht, während von Ihrem Sohn nur Reste geblieben sind?“
„Ich weiß es nicht.“
„Doch, Sie wissen es.“ Brigitte Lasbeck legte eine Hand auf seinen Arm. „Sie hungern und dürsten nach einem Ausgleich.“
„Ausgleich?“
„Ja. Ob es dem Empfänger nun elend geht oder ob er vor Kraft nicht laufen kann, wie der Berliner sagt, es ist bedeutungslos. Wir spüren nur das Unrecht, dass wir unseren Kindern angetan haben, weil wir sie in der schmerzlichsten Stunde ihres Lebens allein gelassen haben.“
„Ja.“ Jetzt war es Saalbach, der seine Hand über den Tisch streckte. „Ich habe mich noch nie so verstanden gefühlt.“
Brigitte Lasbeck beugte sich vor. In ihrem Blick lag etwas Fanatisches, an das er sich klammerte wie an ein Geländer. „Jeder von uns Spenderangehörigen empfindet tief im Innern, dass die Organe dem Empfänger nicht gehören, dass sie illegal dort sitzen. Sie gehören allein dem Verstorbenen und wurden ihm bei lebendigem Leibe geraubt. Wissen Sie, wie ich das nenne?“
„Kannibalismus.“
„Richtig.“ Brigitte Lasbeck lehnte sich zurück und sog tief ein paar Schlucke ein. Claus Saalbach folgte ihr mit den Augen, hatte die Umgebung ausgeblendet, lauschte nur noch ihrer melodisch suggestiven Stimme. „Deshalb muss man die Organe zurückholen, aus diesen falschen Körpern wieder herauslösen.“
Es war nicht nur das Tuten eines Dampfers, das Saalbach zum Erwachen brachte. Etwas verzögert, fast zu spät, hatte er den Sinn der Worte begriffen. Er lachte schrill auf. „Gut gesagt. Absolut logisch. Nur ist das leider – Mord.“
„Ja, natürlich, Herr Saalbach.“ Brigitte Lasbecks geranienrote Lippen öffneten sich zu einem entspannten Lächeln. „Wir müssen uns anders beruhigen. Darf ich Sie noch zu einem Kir Royal einladen?“
„Gern.“ Unter Saalbachs dichten Augenbrauen zwinkerte etwas auf. „Außerdem müssten Sie dann ganz schön herumreisen. Nach Cambridge, nach Inns-
bruck …“
„Sie haben Humor.“
„Den habe ich mir zum Glück bewahrt.“ Er sah auf ihre vollen blonden Haare, ließ den Blick in den halb geöffneten Parka, dann auf ihre schlanken Beine gleiten. Eine verführerische Frau. Selbstsicher. Im Schatten oder in der Sonne ihrer Persönlichkeit – je nachdem, wie man es betrachtete – konnte ein Mann wie er eine neue Orientierung finden.
„Aber Holgers Herz ist in Hamburg.“
„Dann ist es Ihnen nah.“ Saalbach überlegte, wo und mit wem wohl Saschas Herz herumirren konnte. Vielleicht war es ja auch am selben Ort, hier, in Hamburg …
„Jetzt denken Sie an Ihren Sohn.“ Brigitte Lasbecks Stimme berührte ihn wie ein warmer Wind. „Hat man Ihnen ein paar Auskünfte über den Empfänger gegeben?“
„Ich habe nur nach dem Herzen gefragt. Ein 35-jähriger Mann aus der ehemaligen DDR hat es erhalten. Mehr geben sie ja nicht preis.“
„Stimmt. In der Regel nur Alter und Geschlecht.“
„Also kann man den Empfänger nicht ermitteln.“
„Doch, kann man. Wer es wirklich will, schafft es auch.“ Brigitte Lasbeck drückte gegen ihr Glas, als wolle sie es zerbrechen. „In Amerika ist es leichter. Natürlich ist es auch dort nicht erwünscht, aber diese Talkshows, wo sich Spender und Empfänger in den Armen liegen, zeigen ja, dass es strafrechtlich nicht verfolgt wird.“
„Und bei uns?“
„Weiß ich nicht. Das Thema Strafe ist mir auch egal.“
„Es würde auch nur die Verratenden treffen.“
„Ja. Wenn derjenige oder diejenige aber schweigt und ihr die Ausplauderei nicht nachzuweisen ist, dann passiert auch nichts.“
„Warum sollten die dieses Risiko eingehen?“
„Geld, mein lieber Herr Saalbach, Geld. Ärzte brauchen es, Koordinatorinnen brauchen es …“
Claus Saalbach sah seine Begleiterin, die jetzt intensiv aufs Wasser starrte, nachdenklich an. „Und Sie, wissen Sie, wer das Herz Ihres Sohnes bekommen hat?“
Brigitte Lasbeck wandte langsam den Kopf. In ihrem Gesicht mischten sich quälerisch Triumph und Schmerz.
„Ja. Es ist eine 50-jährige Frau. Es ist – “ Sie verstummte.
Claus Saalbach beugte sich über ihre Hand und küsste sie. „Danke, dass Sie mir von Ihrem Sohn erzählt haben. Ich begleite Sie jetzt nach Hause.“
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Werner Danzik
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