Herzschlag der Nacht
sein.
»Soll ich hingehen und nachsehen?«, fragte Audrey, der eindeutig jeder Vorwand recht war, ihrem Schwiegergroßvater zu entkommen.
»Nein, du bleibst hier, falls ich etwas brauche.«
Audrey wirkte, als hätte sie gern geseufzt. »Ja, Mylord.«
Beatrix betrat den Salon und bahnte sich einen Weg zwischen Gästen hindurch. Als sie bei Christopher war, flüsterte sie ihm zu: »Deine Mutter hat soeben Medusa kennengelernt.«
»Meine Mutter war das, die geschrien hat?«, fragte Christopher.
»Was war das?«, rief Annandale vom Sofa aus. » Meine Tochter hat geschrien?«
»Ich fürchte ja, Mylord«, antwortete Beatrix entschuldigend. »Sie traf auf meine Igelin, die ihrem kleinen Stall entwischt sein musste.« Sie sah Christopher an und ergänzte strahlend: »Medusa war bisher zu schwer, um die Wände ihres Kartons hochzuklettern. Anscheinend haben ihre neuen Übungen Erfolg.«
»Waren irgendwelche Schreibfedern involviert, meine Liebe?«, fragte Christopher, der sich das Grinsen kaum noch verkneifen konnte.
»O nein, deine Mutter wurde nicht gestochen. Aber Amelia bringt sie nach oben, damit sie sich ausruhen kann. Leider hat Medusa ihr Kopfschmerzen bereitet.«
Audrey blickte gen Himmel. »Ihr Kopf schmerzt immerzu.«
»Wieso halten Sie einen Igel im Haus?«, wollte Annandale von Beatrix wissen.
»Sie kann nicht für sich selbst sorgen, Mylord. Mein Bruder rettete sie aus dem Loch eines Zaunpfostens, und wir konnten ihre Mutter nicht finden. Deshalb kümmere ich mich seither um sie. Igel sind entzückende Tiere, solange man sie richtig behandelt.« Sie verstummte und musterte Annandale interessiert. »Meine Güte, Sie sind ein Adler, nicht wahr?«
»Ein, was?« Der alte Mann kniff die Augen misstrauisch zusammen.
»Ein Adler.« Beatrix starrte ihn noch genauer an. »Sie haben solch eindrucksvolle Züge, und Sie strahlen Macht aus, selbst wenn Sie nur still dasitzen. Außerdem beobachten Sie andere gern. Sie können Menschen auf Anhieb einschätzen, nicht? Und zweifellos haben Sie jedes Mal recht.«
Christopher wollte intervenieren, war er doch gewiss, dass sein Großvater sie gleich in der Luft zerreißen würde. Zu seiner Verblüffung jedoch blühte Annandale unter Beatrix’ bewunderndem Blick regelrecht auf.
»Kann ich«, pflichtete der Earl ihr bei. »Und fürwahr, ich gehe selten fehl in meinem Urteil.«
Audrey verdrehte wieder die Augen.
»Sie sehen ein wenig unterkühlt aus, Mylord«, bemerkte Beatrix. »Gewiss sitzen Sie im Zug. Einen Moment.« Sie huschte davon, um eine Schoßdecke zu holen, kehrte gleich wieder zurück und drapierte die weiche blaue Wolldecke über ihm.
Es war keineswegs kühl in dem Zimmer, und Zug konnte hier keiner herrschen. Annandale aber nahm die Decke sichtlich erfreut an, und Christopher fiel wieder ein, wie überheizt das Haus seines Großvaters gewesen war. Wahrscheinlich war ihm kalt gewesen. Wie Beatrix es allerdings erraten hatte, war Christopher ein Rätsel.
»Audrey«, bat Beatrix, »erlaube mir, mich zu Lord Annandale zu setzen.« Als wäre es ein begehrtes Privileg.
»Wenn du darauf bestehst.« Audrey sprang, wie von einer Sprungfeder angetrieben, vom Sofa auf.
Bevor Beatrix ihren Platz einnahm, bückte sie sich und griff unter das Sitzmöbel. Sie zog eine schläfrige graue Katze hervor und setzte sie auf Annandales Schoß. »Hier. Nichts wärmt so schnell wie eine Katze auf dem Schoß. Ihr Name ist Lucky, und wenn Sie sie streicheln, schnurrt sie.«
Der alte Mann guckte die Katze unverwandt an.
Und abermals staunte Christopher, denn tatsächlich begann sein Großvater, das glatte graue Fell zu kraulen.
»Dieser Katze fehlt ein Bein«, stellte er, an Beatrix gewandt, fest.
»Ja, ich hätte sie auch nach Nelson benannt, dem einarmigen Admiral, aber sie ist weiblich. Sie gehörte dem Käser, bis sie mit der Pfote in eine Falle geriet.«
»Warum haben Sie sie Lucky genannt?«, wollte Annandale nun wissen.
»Ich hoffte, dass es ihr Schicksal günstig beeinflusst.«
»Und tat es das?«
»Nun, sie sitzt auf dem Schoß eines Earls, nicht wahr?«
Annandale lachte lauthals.
Er berührte die verbliebene Vorderpfote. »Sie hat Glück, dass sie sich an das Laufen auf drei Beinen gewöhnen konnte.«
»Sie war fest entschlossen«, sagte Beatrix. »Sie hätten das arme Ding sehen sollen, kurz nach der Amputation. Immer wieder versuchte sie, mit dem fehlenden Bein aufzutreten oder von einem Stuhl zu springen, stolperte und verlor die Balance. Aber eines
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