Herzschlagzeilen
funkele ich Nina an, aber die lacht nur und quetscht sich noch dazu.
Irgendjemand hält mir ein Glas Cola vor die Nase, und ich greife schnell danach, bevor sie mir einer der anderen wegschnappt. Dann muss ich wenigstens nicht verdursten, während ich weiter an der Liste der infrage kommenden Fluchtziele arbeite.
Ohrenbetäubender Krach setzt ein, als die Youngsters anfangen zu spielen, wir stehen viel zu nah an den Boxen. Die Cola in meinem Glas, das ich vor mir auf der Bühne abgestellt habe, vibriert erst sanft, schlägt dann Wellen und lädt sich blitzartig zu einem Tsunami auf. Ich nehme es wieder in die Hand, und mache mir eine geistige Notiz, sämtliche Länder mit erhöhtem Erdbebenrisiko von meiner Liste zu streichen. Der Typ neben mir fängt sofort an, rhythmisch seinen Kopf vor und zurück zu werfen, Nina beginnt zu tanzen und lässt die Augen dabei keine Sekunde von Colin. Ich bemühe mich verzweifelt, von dem Headbanger neben mir abzurücken, und verfolge Ninas Gehopse.
»Ist er nicht wahnsinnig süß?«, brüllt sie in mein linkes Ohr. Ich vermeide es, ihr zu sagen, dass ich an meinem großen Bruder eigentlich nichts mehr süß finde, seit wir dem Kindergartenalter entwachsen sind. In dem Krach hier würde sie das sowieso nicht hören. Ich nippe an den Resten meiner Cola und beobachte Colin, wie er auf sein Schlagzeug eindrischt. Zugegeben, er sieht cool aus in dem engen T-Shirt und mit seinen kräftigen Oberarmen. Aber hallo? Er ist mein Bruder. Und Brüder können niemals wirklich cool aussehen. Dazu kennt man sie einfach viel zu gut.
Irre ich mich oder hat er eben Nina zugeblinzelt? Ich werfe einen Blick nach links und sehe gerade noch, wie Nina meinem Bruder eine Kusshand zuwirft. Oh. Mein. Gott. Und ich dachte, der Tag könne nicht noch schlimmer werden.
Stöhnend schließe ich die Augen – und sehe prompt den vorwurfsvollen Blick von Marc Behrendt auf mich gerichtet. Ich reiße die Augen wieder auf.
Isa, nimm dich zusammen. Der Tag ist dumm gelaufen, keine Frage, aber das ist kein Grund, jetzt die Nerven zu verlieren.
Ich kippe den letzten Schluck runter und nehme mir vor, morgen einfach einen trockenen Dreizeiler zu der Kindergarteneinweihung zu verfassen und den Rest dem Schicksal zu überlassen. Schließlich war es nicht mein Baby, das dem Typen aufs T-Shirt gespuckt hat, und überhaupt: Marc Behrendt kennt ja nicht mal meinen Namen, was soll also schon groß passieren? Marc Behrendt …
Wie sich seine dunklen Locken im Nacken kringelten, als er da vor mir kniete.
Ich stelle mir vor, wie er langsam aufsteht, sich mit einem strahlenden Lächeln zu mir umdreht und mir seine Hand reicht. Der Kindergarten ist verschwunden, gemeinsam betreten wir stattdessen einen roten Teppich, Arm in Arm auf dem Weg zum Presseball. Gleich werde ich vor aller Augen die Auszeichnung zur Journalistin des Jahres entgegennehmen. Ein paarmal werden wir unterwegs von Fotografen angehalten, mit der Bitte, uns kurz ablichten zu dürfen, bevor wir in den Saal treten. Stolz legt Marc jedes Mal den Arm um mich, seine Frau, die berühmte Journalistin, die vor keiner noch so harten Reportage zurückschreckt. Ich schmiege mich an ihn und will ihm gerade mein Gesicht für einen zärtlichen Kuss zuwenden, als er mir laut ins rechte Ohr rülpst.
Erschrocken reiße ich die Augen auf und starre in das Gesicht meines Nebenmanns.
»Ich brauch unbedingt was zu trinken!« Nina schiebt sich neben mich und wedelt mit ihrem leeren Glas. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Band eine Pause eingelegt hat. Ich will nur noch raus hier.
»Ich muss mal«, raune ich Nina zu und versuche, mich an ihr vorbeizuquetschen. Nina will etwas antworten, sie öffnet den Mund und hebt ihr leeres Glas, aber plötzlich erstarrt sie mitten in der Bewegung und deutet auf irgendetwas hinter mir. Ich drehe mich um. Erst kann ich bei der schummrigen Beleuchtung hier nichts Ungewöhnliches erkennen, aber dann flammt plötzlich ein Blitzlicht auf, und sofort sehe ich, was Nina gemeint hat. Oder besser gesagt: wen.
Luke. Luke-Klette-Skywalker quetscht sich durch die Menge und schießt ein Foto nach dem anderen. Mit jedem Blitz leuchtet sein roter Haarschopf unverkennbar auf. Ich ziehe kurz in Erwägung, mich unter dem Tisch zu verstecken, und bereue es, meine Auswandererpläne noch nicht umgesetzt zu haben. Luke wird mir wohl kaum glauben, dass meine Oma ihren Geburtstag im KuBa feiert.
Ich verschanze mich hinter Ninas Rücken. »Was will der denn hier?«,
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