Herzstoss
hatte die Frau im Reisebüro ihr geraten. Man wisse nie, wie das Wetter in Irland werde. Selbst Mitte Juli könne es dort manchmal kühl wie Mitte Oktober sein, hatte sie Marcy gewarnt. Und sie solle auf jeden Fall einen Schirm einpacken.
Ja, klar, dachte Marcy, hob ihren schmutzigen Mantel auf und hängte ihn über die Lehne des Mahagonistuhls, der vor dem schicken modernen Schreibtisch stand. Die Frau im Reisebüro hatte das Fünf-Sterne-Luxus-Hotel ausdrücklich empfohlen, perfekt gelegen im Herzen der historischen Altstadt und dem Künstlerviertel Temple Bar. Ihr Zimmer war geräumig, geschmackvoll und gemütlich. Wahrscheinlich hätte sie das ziemlich große Doppelbett nicht gebraucht, aber sei’s drum. So hatte sie wenigstens ausreichend Platz, sich hin und her zu wälzen, ohne sich Sorgen zu machen, dass jemand ihr in die Rippen stieß und sie aufforderte, stillzuliegen.
Sie ging zu dem großen Fenster mit Blick auf das College Green gegenüber dem Trinity College. Die Straße füllte sich allmählich mit Menschen, die alle ganz genau zu wissen schienen, wohin sie gingen und was sie taten. Sie warf einen Blick auf die Uhr neben dem Bett. Beinahe acht. Sie hatte seit dem Mittagessen keinen Happen mehr zu sich genommen. Wahrscheinlich sollte sie den Zimmerservice anrufen und sich etwas heraufbringen lassen. Oder vielleicht sollte sie ausgehen, dachte sie, und sich Peters Zweifel von einer abendlichen Brise aus dem Kopf wehen lassen.
Nur dass Peter gar keine Zweifel hatte. Das hatte er nie gehabt. War das nicht eine der Eigenschaften, die sie anfangs so anziehend an ihm gefunden hatte? Dass er sich seiner selbst immer so gewiss war, seiner Sache in allem so sicher? Hatte sie nicht genau danach gesucht?
In einem hatte er allerdings recht: Es wäre ein zu großer Zufall gewesen, wenn sie Devon hier gesehen hätte. Wenn ihre Tochter sich nicht in Cork, sondern in Dublin niedergelassen hätte, hätte Marcy sie womöglich nie gefunden. Dublin war eine erstaunlich junge Stadt. Fünfzig Prozent der Einwohner waren unter dreißig, erinnerte sie sich, gelesen zu haben, während sie beobachtete, wie unten auf der Straße eine junge Frau in die ausgestreckten Arme ihres Freundes flog. Der folgende Kuss war lang und innig. Nach etwa einer halben Minute lösten sie sich voneinander, das Mädchen kicherte ausgelassen, während der Junge verträumt zu ihrem Hotelzimmer hochschaute. Marcy wich einen Schritt zurück, obwohl sie bezweifelte, dass er sie im dritten Stock gesehen hatte.
Hatte Peter sie jemals mit solcher Leidenschaft geküsst? Und hatte sie je mit so ungezügelter Freude reagiert?
Marcy ging zum Kleiderschrank, öffnete den Safe, strich über ein Paar goldene Ohrringe, das Judith ihr zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte, und tastete nach dem mittelgroßen Umschlag ganz hinten in der mit Samt ausgeschlagenen Schatulle.
Sie kehrte zum Bett zurück, öffnete den Umschlag und zog ein halbes Dutzend Fotos heraus, sorgfältig darauf bedacht, den kleineren Umschlag mit der Aufschrift MOMMY zu meiden, der ebenfalls in der Hülle steckte. Sie legte die Bilder auf die weiße Bettdecke und betrachtete jedes einzelne eingehend: Devon als rundes kleines Baby, in den Armen ihrer Mutter, ein strahlendes Gesicht wie ein Spiegelbild des anderen, beide mit den gleichen großen braunen Augen und dem geschwungenen Amorbogen; Devon als Fünfjährige in einem bauschigen pinkfarbenen Tutu, die auf ihren stämmigen kleinen Beinchen balancierte und mit stolzem Lächeln auf ihre Ballettschuhe schielte; Devon an ihrem zwölften Geburtstag mit einem schnurgeraden Pony, dessen Fransen ihr in die Augen fielen, den Mund weit geöffnet, um ihre frisch eingesetzte Zahnspange zu zeigen; Devon und Marcy, Arm in Arm vorgebeugt, um die sechzehn Kerzen auf Devons Geburtstagstorte auszublasen; Devon mit achtzehn, beinahe eine Schönheit mit schulterlangen, wuchernden, schwarzen Locken und einem ängstlichen, unsicheren Lächeln. Marcy bemerkte die Traurigkeit, die sich bereits in die Augenwinkel ihrer Tochter geschlichen hatte, auch wenn ihr Kinn nach wie vor trotzig gereckt war, als wollte sie den Fotografen warnen, ihr bloß nicht zu nahe zu kommen; und schließlich Devon wenige Wochen, bevor man ihr gekentertes Kanu in der Georgsbucht entdeckt hatte, in einem alten blauen Pullover, in der Hand die inzwischen unvermeidliche Zigarette, die einst ausdrucksvollen dunklen Augen leer und rot gerändert, die Lippen zu einer geraden
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