Herzstück mit Sahne: Roman (German Edition)
fleißig.
Die Zeit, seit ich diesen Knoten entdeckt habe, ist die merkwürdigste meines Lebens. Es kommt mir vor, als sei alles, worüber ich mir früher den Kopf zerbrochen habe, vollkommen unwichtig. Vorher waren diese Dinge von Bedeutung für mich, aber seit ich weiß, dass vielleicht etwas Bösartiges in mir heranwächst, das sich sekündlich ausdehnt und seine tödlichen Tentakel ausstreckt, kann mich nichts anderes mehr wirklich erschüttern. Es kommt mir vor, als habe sich die Trennung von James schon vor Ewigkeiten zugetragen. Er fehlt mir immer noch, und ich bin auch immer noch verletzt, weil er mich so mühelos ersetzt hat, aber es ist nicht mehr so wichtig wie früher.
Mads hat recht. Man lebt wirklich nur einmal. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass meine Lebenszeit auch noch besonders kurz ausfallen würde. Das tun wir doch alle nicht, oder? So vieles verschieben wir auf später – die Orte, die wir irgendwann besuchen, die Dinge, die wir irgendwann machen wollen. Und dabei sind wir ständig in Eile. Ich haste zur Arbeit, renne durch die Schule wie der Tasmanische Teufel auf Speed und verputze mein Pausenbrot, während ich zur nächsten Stunde pese. Dann sprinte ich zum Bus, flitze durch den Supermarkt, hetze nach Hause, korrigiere Arbeiten und falle ins Bett. Und am nächsten Tag stehe ich auf, und alles fängt wieder von vorn an.
Haltet das Karussell an. Ich will aussteigen.
Warum eigentlich schufte ich so viel und schieße mit tausend Stundenkilometern durch die Gegend?
»Was soll das alles?«, sinniere ich laut. Was kann ich aus meinen vergangenen fast dreißig Lebensjahren vorweisen außer ansehnlichen Kreditkartenschulden und einer Sucht nach Hochglanzmagazinen? Was habe ich eigentlich mit meinem Leben angestellt?
Verplempert – so sieht’s aus. Ich seufze und kraule Sashas seidige Ohren. Ich habe mir nie die Zeit genommen, darüber nachzudenken, was ich eigentlich will. Ich bin in einen Beruf reingeraten, den ich nicht wirklich wollte, ich habe Jahre mit einem Mann vergeudet, der mich nicht so geliebt hat, wie ich es verdient habe, und ich war zu feige, einen ernsthaften Versuch mit dem Schreiben zu machen. Wie die meisten Menschen träume ich davon, was ich irgendwann noch machen will, und gestalte mir damit die Gegenwart erträglicher, aber was tue ich, um meine Träume umzusetzen? Nichts und wieder nichts.
Neunundzwanzig Jahre alt und so eine magere Bilanz.
Ein ernüchternder Gedanke.
Ich will nicht deprimiert sein, und ich bin es auch nicht wirklich. Eher nachdenklich. Dieser Knoten in meiner Brust hat alles Mögliche ausgelöst. Ich betrachte vieles aus einem anderen Blickwinkel. Wenn dieser hinterhältige Zellklumpen nicht in meinem Körper säße, würde ich zweifellos unbekümmert so weitermachen wie bisher und mir lediglich den Kopf darüber zerbrechen, wie viele Kalorien ich heute zu mir genommen habe und ob mein Liebesleben derzeit eine Totalpleite ist. Obwohl ich mir darüber eigentlich keine Gedanken mehr machen muss, denn die Antwort liegt ja auf der Hand.
»Aber ich sag dir was«, teile ich Sasha mit, »ein Gutes hat die Sache: Hier wird sich ab jetzt was ändern. Als Erstes gebe ich deinem Herrchen ein Bier aus, denn der Mann war echt toll zu mir.«
Wenn es hart auf hart kommt, sieht man, wer ein wahrer Freund ist.
»Das kann doch nicht wahr sein«, hatte Ollie entsetzt gerufen, als ich ihm von meinem grauenhaften Vormittag erzählt hatte. Ich war nämlich wieder in die Schule gegangen, da ich zu Hause im Eiltempo Selbstmordgedanken ausgebrütet hätte. In der Schule habe ich kaum Zeit zum Pinkeln, geschweige denn zum Grübeln.
Um halb vier stürmte die Elfte aus dem Raum und hinterließ ein Schlachtfeld. Poster lösten sich traurig von der Wand, mindestens zwei Stühle hatten Schlagseite, und zahlreiche Exemplare von Macbeth lagen überall auf den Tischen verstreut. Ollie, der vobeigekommen war, um schnell eine mit mir zu rauchen, eilte stattdessen davon, um Schokolade und Taschentücher zu organisieren.
»Und das hast du alles ganz allein durchgestanden?«, fragte er, brach ein Stück Schoki ab und steckte es mir in den Mund. »Wieso hast du niemanden angerufen?«
Ich verzichtete tunlichst darauf, Alice und James zu erwähnen, weil ich fürchtete, Ollie würde womöglich losziehen und meinen Exverlobten vermöbeln.
»Wusste nicht, wen ich mitnehmen sollte.«
»Und was ist mit mir? Ich hätte dich gern begleitet. Was hat der Arzt denn
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