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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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reinlegten. Die Männer hatten das Geld aus ihnen herausgepresst und sich den schweren Weg über die wirkliche Grenze in den Westen erspart. Die Irrfahrten in den Lastwagen, die Fahrt im Kofferraum, das tagelange Marschieren, das war alles nur ein riesengroßer Schwindel gewesen. Es hatte gar keine österreichischen Grenzposten gegeben, die auf sie hätten schießen können. Der Zaun, unter dem sie gestern durchgekrochen waren, war wahrscheinlich überhaupt nicht bewacht gewesen.
    Sie hatten ihnen Angst gemacht. Angst, damit sie keine Fragen stellten, sie nicht jammern würden, wenn man ihnen auch noch das Letzte, was sie bis hierher gerettet hatten, abnahm. Die Schlepper wussten, es würde Stunden dauern, bis die Flüchtlinge erkannten, dass sie reingelegt worden waren. Bis dahin waren sie längst über alle Berge.

    Natürlich hatte niemand in diesem Ort auf sie gewartet. Sie waren getäuscht und verraten worden. Jetzt hatten sie nichts mehr. Sie hatten für die Reise bis nach Österreich bezahlt, das letzte Geld, das letzte Hemd, das sie besaßen, in diesen Traum investiert. Viele hatten sich verschuldet, ihr Leben darauf geschworen, in Österreich ihre Schulden abzuarbeiten. Jetzt hatten sie Schulden und waren in Ungarn gestrandet. Keiner würde einen Schlepper finden, der ihnen ohne Geld half, über die richtige Grenze nach Österreich zu gelangen.
    Sie kannten die Geschichten von den Arbeitssklaven, die in die Fänge skrupelloser Schlepper geraten waren. Zuerst brachten sie sie über die Grenze, dann sperrten sie sie ohne Papiere, ohne Kontakt zu ihren Familien in Lokale und Fabriken und ließen sie jahrelang arbeiten. So lange, bis die Schlepper sagten, der Sklave hätte seine Schulden abbezahlt. Wer die Arbeit überstand, fand sich danach wertlos, ohne Papiere, ohne Familie als Fremder in einem fremden Land. Doch viele überstanden diese Jahre nicht oder wurden geschnappt und zurückgeschickt.
    Die Einheimischen umkreisten sie, bis der Lastwagen mit den Polizisten kam, um die Gruppe, die plötzlich im Morgengrauen in den Ort eingefallen war, zu verhaften. Widerstandslos, ohne Fragen zu stellen, ohne einen Fluchtversuch und ohne jede Hoffnung stiegen sie in den Wagen.

NEUE PLÄNE
    Hesmat hatte mit Schlägen gerechnet, mit engen Zellen, mit den gierigen Händen anderer Gefangener. Er zitterte, als ihn die Polizisten mit den anderen in die Polizeistation führten und ihre Fingerabdrücke nahmen. Aber sein Herz beruhigte sich, als sie unaufgefordert Essen bekamen. Die Polizisten hatten nichts mit den Männern gemein, denen er bisher in den Stationen und Gefängnissen auf seiner Flucht begegnet war. Sie hatten nicht zu den Stöcken gegriffen, die an ihren Uniformgurten baumelten.
    Am nächsten Tag setzten die Polizisten sie in einen Zug, der sie in ein Flüchtlingslager bringen sollte. Jede Überstellung mittels eines Auto, eines Busses oder des Zuges hatte bislang Schlimmes bedeutet. Sie jammerten, als sie die Polizeistation verlassen mussten und davon hörten, in ein Lager zu kommen. Nach den freundlichen Polizisten und der warmen Zelle, in der sie auch satt geworden waren, konnte jetzt alles nur wieder schlimmer werden. Aber sie hatten sich getäuscht.
    Der Zug fuhr drei Stunden in Richtung Westen, und als sie schließlich die ersten Schritte in das Lager setzten, glaubten sie zuerst an eine Verwechslung. Das Lager war schöner und
besser als alles, was sie bisher gesehen hatten. Es gab sogar ein Bett für jeden von ihnen. Familien erhielten sogar eigene Zimmer. Zum ersten Mal seit Moskau strichen Hesmats Finger über ein frisches Betttuch, saubere Handtücher, schlief er in einem Zimmer, das nach Putzmittel roch und durch dessen Spalten und Ritzen kein Wasser tropfte und nicht der Wind pfiff.
    Er hatte die schönen Hotels in Moskau gesehen, die 5-Sterne-Burgen, wie Sayyid sie genannt hatte. Jetzt hatte er das Gefühl, selbst Gast in einem dieser Hotels zu sein. Nach ein paar Tagen bekamen sie provisorische Ausweise, mit denen sie sich im Lager und in der Umgebung frei bewegen konnten. Dreimal täglich gab es warmes Essen. Am zweiten Tag nahm er all seinen Mut zusammen und fragte nach einem Nachschlag. Der Koch klatschte dem dünnen Jungen einen weiteren Löffel Kartoffelpüree auf den Teller, sodass ihm die Sauce über die Finger schwappte, und lachte dabei.
    Neben ihrer Gruppe gab es ein paar Flüchtlinge aus dem Irak, eine Familie aus Usbekistan, ein paar Leute aus Tschetschenien und eine Familie aus

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