Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
machen nur ihre Arbeit. Im Westen wird alles gut, sogar wenn sie dich festnehmen.« Sie waren aus ihrem bösen Traum erwacht, und alle Strapazen, die Ängste, die sie ausstehen mussten, die Menschen, die sie begleitet hatten und die sie zurücklassen mussten, waren für den Augenblick vergessen.
    Die Nacht war dunkel, aber das Land strahlte für sie wie das Paradies. Die Schlepper hatten sie gewarnt, aber die Freude über den gelungenen Grenzübertritt überstrahlte all ihre Sorgen. Sie lachten und redeten laut, ihre Schmerzen waren vergessen und sie marschierten wie eine Gruppe Schulkinder dahin. Alles war gut. Selbst als sie längst drei Kilometer marschiert waren und keinen Ort sahen, kamen keine Sorgen auf. Sie legten neben einem Maisfeld eine Pause ein und brieten sich die saftigen Maiskolben über dem Feuer, das Hesmat und sein Onkel entfacht hatten. Am meisten quälte sie der Durst, doch das Wasser aus den Pfützen, die auf der Straße standen, schmeckte unvergleichlich.
    Die Nacht war kalt, aber das Gefühl der Freiheit hielt sie warm. Einige waren der Meinung, dass sie sich verlaufen hatten. Einmal hatte sich der Schotterweg geteilt und sie waren nach Süden gegangen.
    »Wir sind sicher falsch«, sagte Hesmats Onkel, als sie sich in einer Wiese ausruhten.
    Am nächsten Morgen gingen sie den Weg bis zur Kreuzung zurück und sahen wenig später endlich das kleine Dorf, das ihnen die Schlepper beschrieben hatten. Die Sonne ging gerade auf und die ersten Dorfbewohner saßen vor ihren Hütten. Sie klopften hinter sich an die Bretter der Häuser und weitere Menschen kamen auf die Straße. Schließlich blieben die Flüchtlinge stehen. Afghanische Augen starrten in österreichische
Augen, die ängstlich und verwirrt wirkten. Hesmat hatte sich den Westen anders vorgestellt. Die Leute sahen nicht weniger verschreckt aus, als sie selbst es waren. Und wenn einer aus ihrer Gruppe auf einen Einheimischen zuging, schreckte der zurück.
    »Ist ja kein Wunder«, sagte eine Frau, »seht uns doch an, wir sehen aus wie Monster.«
    Ausgehungert, müde, stinkend und schmutzig standen sie den verdutzten Österreichern gegenüber. Wer würde nicht am liebsten vor ihnen davonlaufen?
    Er selbst würde auch Angst haben, wenn er sich so sehen würde, dachte Hesmat.
    Als die Gruppe das Straßenschild entdeckte, waren sie zu verwirrt, um es zu begreifen. In großen schwarzen Buchstaben stand dort »Budapest«. Doch sie wussten, dass Budapest nicht in Österreich lag.
    »Aber es kommt ja gleich nach der Grenze«, sagte eine Frau. »Warum soll hier kein Straßenschild stehen?«
    Ein Kind unterbrach ihre Überlegungen. Das kleine Mädchen hielt einen großen Laib Schwarzbrot in der Hand und ging vorsichtig auf die Gruppe zu, drückte einem von ihnen das Brot in die Hand, drehte sich um und lief davon. Ein zweites Kind kam mit einem Eimer Wasser. Binnen Sekunden hatten Dutzende Hände das Brot zerrissen und stopften ihre hungrigen Münder damit. Einige, die zu langsam reagiert hatten, standen mit leeren Händen daneben. Als sie zu streiten begannen, kam einer der Einheimischen auf sie zu. Sie verstanden nicht, was er sagte, niemand von ihnen sprach Österreichisch. Sein Onkel versuchte es auf Englisch. Was er ihnen übersetzte, ließ sie erstarren. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Wortlos kauten sie auf ihrem Brot, das satt machte, aber seinen herrlichen Geschmack mit einem Schlag verloren hatte.

    »Nein«, hatte der Alte gesagt, »nicht Österreich!« Er lachte mitfühlend und hob entschuldigend die Hände. »Nicht Österreich, hier Ungarn, Österreich weit von hier.« Dabei streckte er seine Hand aus und zeigte Richtung Westen.
    Keiner rührte sich mehr, niemand hatte mehr Kraft. Dort, mitten auf der Straße, wo ihnen der Mann vor einer Stunde erzählt hatte, was sie beim Anblick des Straßenschilds bereits geahnt hatten, waren sie zusammengesunken und starrten nun mit leeren Augen in die Gesichter der Umstehenden, die sich immer näher herangewagt hatten. Sie brachten ihnen einen zweiten Laib Schwarzbrot, mehr Wasser, eine Landkarte, auf der sie ihnen zeigten, wo sie gestrandet waren.
    Die Schlepper hatten ihnen nur Lügen aufgetischt: Die Lebensmitteldosen mit den ungarischen Aufdrucken, die man ihnen gegeben hatte, um sie in Sicherheit zu wiegen, der Fernseher, der im Haus stand und nicht funktionierte. Jetzt wussten sie, warum. Sie hätten gehört und gesehen, dass sie noch immer in der Ukraine waren, dass die Schlepper sie

Weitere Kostenlose Bücher