Hesmats Flucht
sondern sich Schutz und einen sicheren Unterschlupf für die kommende Nacht erhofften. Trotzdem waren die Mudschaheddin unvorsichtig gewesen: Es hätten statt der Flüchtlinge auch 30 Taliban ohne Vorwarnung in ihrem Lager stehen können.
»Ihr könnt hier nicht bleiben«, sagte der Oberst kurz. »Ihr müsst verschwinden. Ihr behindert unseren Einsatz.«
Schließlich ließ er doch mit sich reden. Sie durften ihre Plastikplanen aufschlagen und beruhigt ihre Augen schließen. Zum ersten Mal seit Tagen hatte Hesmat das Gefühl, sicher zu sein.
Hesmat bekam nichts von den Gesprächen der anderen mit. Als er eingeschlafen war, unterhielt sich ihr Führer lange mit einigen Mudschaheddin über die Lage im Norden. Darüber, dass sich der Widerstand formierte, ihre Obersten aber nicht in der Lage waren, die einzelnen Gruppen der verstreuten Kämpfer zu organisieren. Ihnen waren nur ihre veralteten Gewehre, ein paar Granaten und eine Panzerfaust geblieben. Seit Wochen irrten sie in den Bergen umher und hielten Ausschau nach anderen versprengten Gruppen. Die Anführer der verschiedenen Gruppen stritten sich außerdem um die Führung und jeder verfolgte andere Ziele. Die einen sprachen vom sofortigen Angriff auf die Taliban, die anderen davon, auf Hilfe von außen zu warten. Es gab keine jungen Männer mehr, die sich ihnen anschlossen. Eine ganze Generation war in den Krieg gezogen, sie hatten für ihr Land gekämpft und waren gestorben.
»Die Wiesen sind getränkt mit dem Blut unserer Besten«, sagte einer der Männer. »Wir verbluten und sterben.«
Der Führer erkundigte sich nach dem sichersten Weg zur Grenze.
Immer wieder hatten die Mudschaheddin Stellungen der Taliban aus der Ferne gesehen und immer häufiger waren Gerüchte von einem bevorstehenden Angriff auf ihre letzten Stellungen an ihre Ohren gedrungen. Der Kampf und der endgültige Sieg der Taliban war wohl nicht mehr aufzuhalten und es gab nur noch wenige Ortschaften unter dem Schutz der Mudschaheddin. Selbst sichere Schleichwege und Trampelpfade über die Berge konnten plötzlich über Nacht zu Fallen werden, sagte der Kommandant. Die Situation ändere sich von Woche zu Woche.
Als die Männer schlafen gingen, hatten sie beschlossen, zuerst nach Shahalin im Osten zu gehen. Der direkte Weg zur Grenze war zu unsicher. Dort im Dorf wollten sie für ein paar
Wochen ausharren und auf eine Besserung warten. Niemand weihte Hesmat in die Planänderung ein. Als er erwachte, sprach niemand mehr davon.
Die Berge wurden immer höher und die Pässe steiler. Schließlich steckten sie bis zu den Hüften im Schnee und selbst die Tiere kamen kaum vorwärts. Jede Bewegung, jeder Schritt wurde endgültig zur Qual. Sie waren hoch in den Bergen, die Luft war spürbar dünner als im Tal und jede weitere Minute wurde zur Unendlichkeit. Einzig der Gedanke an die Grenze ließ Hesmat nicht verzweifeln.
Irgendwann mussten die Berge und Pässe ein Ende nehmen, machte er sich Mut, bald würde es vorbei sein. Noch ein paar Stunden. Er würde an der Grenze sein und dieses Land verlassen.
Als sie endlich die ersten Häuser sahen, atmete Hesmat hörbar auf, dann aber holte ihn die Enttäuschung ein. Die kleine Stadt wirkte ruhig und friedlich, aber Hesmat sah keinen Fluss, der eigentlich die Grenze darstellte. Erst als er danach fragte, erfuhr er von der Planänderung.
»Nein, wieso? Das ist nicht Hodscha-Bahaudin«, sagte der Führer genervt.
Hesmat weinte und protestierte, aber jeder Protest prallte an den kalten Augen des Führers ab.
Sie waren fast eine Woche Fußmarsch von der Grenze entfernt. Die ganzen letzten Tage waren sie unter unglaublichen Strapazen nach Osten statt nach Norden gegangen und die Grenze war jetzt noch weiter entfernt als von Taloqan aus.
»Inschallah«, sagte der Führer, »du wirst schon noch an die Grenze kommen. Hab Geduld.«
Der Umweg hatte auch sein Gutes. Der Ort war ruhig. Hier gab es keine Taliban. Er hörte Musik aus einem Kassettenrekorder, sah Fotos an den Wänden und in einem Haus lief sogar
ein Fernseher. Der Dorfälteste wollte auf seinen Luxus, den er sich vor Jahren in Kabul angewöhnt hatte, nicht verzichten. Auf dem Dach seines Hauses hatte er eine Satellitenschüssel installiert und ein Generator hinter dem Haus lieferte den nötigen Strom. Hesmat erinnerte sich daran, wie sein Vater so eine Schüssel auf ihrem Dach montiert hatte und wie alle Nachbarn zusammengelaufen waren, um die Bilder zu sehen. Als die Taliban Mazar einnahmen,
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