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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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verschwanden dann die Satellitenschüsseln wieder von den Dächern.
    Hier aber gab es niemanden, der auf die Länge der Bärte achtete, niemanden, der die Frauen schlug, wenn sie alleine aus dem Haus gingen und nur schlichte Kopftücher statt der Burka trugen. Er überlegte, warum sie nicht schon längst über die Grenze geflohen waren, landete mit seiner Frage aber bei seiner eigenen Familie. Warum waren sie selbst nicht rechtzeitig geflohen? Er vertrieb den Gedanken mit dem kühlen Wasser, das er sich übers Gesicht laufen ließ. Es war die erste Dusche nach fast drei Wochen. Als er aus der Wanne stieg, war der gesamte Boden schwarz. Er schämte sich und schlüpfte zurück in seine schmutzige Kleidung. Er würde sie in den nächsten Tagen waschen.

ALLEIN UNTERWEGS
    Lange war keine Gruppe mehr in den Ort gekommen und die Einheimischen rissen den Händlern praktisch alles aus den Händen. Sie machten gute Geschäfte und sie wollten bleiben. Sich erholen. Warten. Dann hörte Hesmat, dass sie überlegten, noch einmal nach Taloqan zurückzugehen. Sie konnten hier gute Geschäfte machen und wollten Nachschub organisieren. Sie kannten jetzt den Weg zwischen den Fronten hindurch und begannen zu streiten. Die Frauen wollten weiter in ihre Stadt, zurück nach Hodscha-Bahaudin. Die Männer und der Anführer der Gruppe aber wollten Geschäfte machen.
    Drei Tage hörte Hesmat dem Hin und Her zu, dann entschloss er sich zu gehen. Die Mudschaheddin kannten den Weg zur Grenze, und dort gäbe es weitere versprengte Gruppen, die ihm helfen würden. Der Weg war gefährlich, aber nicht unmöglich. Er würde London nie erreichen, wenn er schon hier Wochen umsonst wartete. Wer konnte ihm garantieren, dass die Taliban nicht in den nächsten Tagen den Ort einnahmen und er noch länger warten musste?
    Er hatte sich gründlich ausgeschlafen und war früh und gegen den Rat der Einheimischen aufgebrochen. Er wollte in den
Bergen sein, bevor die Mudschaheddin, die sie getroffen hatten, weiterzogen. Er war sich sicher, dass sie einen einzelnen Jungen nicht im Stich lassen würden. Es waren Kämpfer, sie hatten ein Herz, sie würden ihm helfen. Sie mussten ihm ganz einfach helfen, sagte sich Hesmat immer wieder.
    Er ging Stunde um Stunde und versuchte, sich an den Weg, den sie gekommen waren, zu erinnern. Er hielt Ausschau nach auffälligen Felsen, Sträuchern und Dingen, die er auf dem Weg ins Tal gesehen hatte. Aber bald musste er einsehen, dass er sich verlaufen hatte, und setzte sich entmutigt auf einen Stein.
    Er ging stumm die Möglichkeiten durch, die ihm blieben: Er konnte hier sitzen bleiben. Er konnte zurück in den Ort. - Er konnte sich geschlagen geben. Er konnte aber auch aufstehen und immer weitergehen. Gehen, solange er etwas hatte, das seinen Magen füllte, solange Wasser in seiner Flasche war und ihn keiner aufhielt. Er dachte an das Gesicht seines Großvaters, wenn er wieder in der Tür ihres Hauses stehen würde. Er hätte gewonnen. Sie alle hätten gesiegt. Er hätte sich getäuscht. Nein, er wollte nicht der Diener seines Großvaters werden. Er hatte es versprochen, sich selbst, seiner Mutter. Sein Vater war aufrechten Hauptes gestorben, er hatte keine Angst um sich gehabt. Sie sollten nicht umsonst gestorben sein.
    Seine Eltern hatten sich an der Universität in Balkh kennengelernt. Sie kam aus einer gebildeten und weltoffenen Familie im Westen, nahe der Grenze zum Iran. Sie studierte Dari (eine der drei Landessprachen) und Mathematik und träumte davon, Lehrerin zu werden. Er war südlich der Hauptstadt Kabul geboren und als Vierzehnjähriger von zu Hause weggelaufen. Weg von seiner Familie, von seinem tyrannischen Vater, der ihn religiös erziehen wollte. Er hatte sich dagegen aufgelehnt und es war zum Streit gekommen. Daraufhin hatte er sich alleine bis nach Mazar-e Sharif durchgeschlagen und sich dort
mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten. Nach der Vertreibung des Königs brach der Bürgerkrieg aus, doch seinem Vater war klar gewesen, dass die Russen das Land nicht auf Dauer im Chaos versinken lassen würden.
    Als sie schließlich lange vor Hesmats Geburt in Afghanistan einmarschierten, schlug Hesmats Vater sich auf die Seite der Besatzer. Er glaubte an die Kommunisten, er hoffte auf Frieden. Er lernte Russisch und machte schnell Karriere. Er bekämpfte die Widerstandsnester, kommandierte eine kleine Einheit und sorgte für Nachschub bei den Truppen. Er war gut im Organisieren und kannte den

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