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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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lauschte. Es war still, nur der Wind pfiff über die Höhle, in die er sich verkrochen hatte. Da, wieder! Der Wind wurde lauter und verschlang das Geräusch.

    Er hatte die gerissenen Tiere gesehen. Er versuchte, sich zu beruhigen. Es mussten nicht unbedingt Wölfe sein. Wieder hörte er hinaus in die Dämmerung. Er spürte den Herzschlag in jeder Faser seines Körpers. Es war überall. In seinen Händen, in seinem Kopf. Ein Herz, das raste, sich versteckte, das Angst hatte. Er zitterte. Seine Hände suchten in seinem Umhang nach dem Feuer. »Es kann dir das Leben retten«, hatte der Mann in Taloqan gesagt. Seine ganze Hoffnung war das Feuer. Sie hätten Angst davor. Sie würden ihm nichts tun. Holz. Wo konnte er hier Holz finden?
    Beruhige dich, denk nach! Wo ist es? Zitternd durchsuchten seine Finger die Tasche. Er hatte es verloren! Ihm wurde schlecht. Was war das für ein Geruch? Er wollte schreien, konnte nicht vor Angst. Was, wenn es andere Männer waren? Nein, hier war niemand! Nur er.
    Seit zwei Tagen hatte er niemanden gesehen. Die Mudschaheddin, zu denen er gewollt hatte, waren verschwunden gewesen. Er hatte sich verlaufen.
    Hier war niemand! Er tastete sich einen Schritt zum Ausgang der Höhle. Seine Augen suchten umsonst, es war zu dunkel. Wo war das Feuerzeug? Der Wind hatte sich von einer Sekunde zur anderen gelegt. Stille. Nur sein Herz. Beruhige dich, es ist nichts!
    Erst jetzt nahm er den Geruch wahr. Er kannte den süßlichen Gestank. Er kannte ihn aus den Straßen in Mazar.
    »Du vergisst diesen Gestank dein Leben lang nicht«, hatte sein Vater gesagt. Hesmat erinnerte sich, dass der Gestank damals wochenlang über der Stadt gelegen hatte. Die Kämpfer hatten die Russen letztendlich aus dem Land vertrieben und bald hatten die Taliban die Kontrolle über die Stadt übernommen. Die Menschen verbarrikadierten sich in ihren Häusern, viele flüchteten, versuchten, den Mördern zu entkommen, beteten.
Tausende Taliban durchkämmten die Stadt. Sie wussten, wo ihre Feinde saßen. Sie mussten den Widerstand sofort brechen und schnitten die Gedanken an Widerstand zusammen mit den Köpfen von den Hälsen der Unglücklichen.
    Jeder kannte die Gesetze, die nun herrschen sollten. Die Taliban mussten sie nicht noch einmal verkünden. Das Blut in den Straßen unterstrich ihre Entschlossenheit. Immer wieder fand Hesmat Leichenberge in den Straßen, immer wieder Blut, abgeschnittene Arme und Beine und noch mehr Blut. Das Blut quoll unter den wahllos übereinandergeworfenen Menschenbergen hervor und rann Hesmat schon lange über die offenen Sandalen, ehe er wieder denken und atmen konnte. Er sah nur Tote, nichts Lebendiges, kein Geräusch. Die Lebenden waren geflüchtet oder im Stadtzentrum. Dort verkündeten die Taliban die neuen Zeiten, erhängten zur Demonstration ihrer Macht Gefangene.
    Von seinem Großvater wussten sie bereits, dass sie ihre Bilder abhängen mussten und die Frauen das Haus nicht mehr ohne einen männlichen Verwandten verlassen durften. Musik sei ab sofort verboten, hieß es, ihre Fotoapparate würden zerstört. Die Männer mussten sich Bärte wachsen lassen, und wer einen zu kurzen Bart trug, dem drohten Prügelstrafe und Gefängnis. Für alles gab es Strafen, und nach den Bergen an Toten, die er gesehen hatte, wusste er, dass es die Taliban mit ihren Drohungen ernst meinten.
    Jetzt erinnerte sich Hesmat an diesen Geruch, der untrügliche Geruch des Todes. Er wollte laufen, doch er war wie festgefroren. Sein Körper reagierte nicht, war mit Zittern beschäftigt. Noch immer hatte er die Hände im Beutel vergraben. Die Taschenlampe! Endlich Licht, doch kurz darauf wünschte er, er hätte nichts gesehen. Das Bild, das sich ihm bot, würde er nie
vergessen können, auch wenn es nur Sekundenbruchteile waren, bevor er zu laufen begann.
    Seine Füße hatten ihn aus der Höhle geholt. Sie taten, was sie wollten, ließen sich nicht mehr steuern, gehorchten nur noch den Instinkten, nicht mehr dem Kopf. Sie liefen, so schnell es ging. Die Blasen an den Füßen waren vergessen. Sie liefen, bis ein Krampf sie stoppte. Er fiel der Länge nach hin und spürte nicht, wie das Knie hart auf dem Stein aufschlug. Erst als er das warme Blut fühlte, das ihm über den Unterschenkel lief, kam er wieder zur Besinnung. Die Taschenlampe hielt er nach wie vor in den verkrampften Fingern. Der schmale Lichtstrahl verlor sich in der Nacht. Der Geruch war überall, schien ihn aus dieser Höhle zu verfolgen. Dabei war er weit

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