Hesmats Flucht
die Augen öffnet. Manchmal bleibt ein Fetzen, ein einzelnes Bild in seinem Gedächtnis. Manchmal sieht er seine Mutter, manchmal die Toten in der Höhle am Hindukusch, manchmal verfolgen ihn fremde Männer oder es schlägt jemand auf ihn ein, dann wieder hört er nur das Atmen eines Fremden in der Dunkelheit.
Wenn er aufgewacht ist, sind die Albträume noch lange nicht vorbei. Manchmal ist es nur ein Geräusch, das ihn erschreckt, die Dunkelheit, die kommt, sobald die Sonne hinter den Bergen verschwindet.
Es gibt Stunden, in denen er glaubt, ersticken zu müssen, in denen er auf den Balkon läuft, alle Fenster und Türen aufreißt. Stunden, in denen ihm nichts ein Trost ist. Stunden, in denen er nicht mehr weiß, wie seine Eltern ausgesehen haben,
wie sein Bruder gerochen hat, wie Mazar im Morgenlicht gestrahlt hat.
Er sieht sich die Bilder seiner Mitbewohner an. Die vergilbten Fotos von Kindern, von Familien, von Häusern und Ländern, die sie verlassen haben, und spürt die Leere in seinen Taschen. Wenn er stirbt, wird es nichts geben, das beweisen wird, dass er gelebt hat. Es gibt keine Fotos von seinen Eltern und ihm, nichts, das er sich vor die Augen halten kann und das beweist, dass er einmal glücklich war. Nichts, das ihm sagt, dass es Menschen gibt, die an ihn denken, die sich um ihn sorgen. Nur Leere, Einsamkeit und Hoffnung. Hoffnung, die trotz allem am Leben geblieben ist und die ihn die Fenster und Türen schließen, die ihn wieder ins Bett zurücksteigen lässt und ihm hilft weiterzuleben.
NACHWORT
Ich traf Hesmat zum ersten Mal drei Tage vor Weihnachten 2002.
Martin Harjung, der stellvertretende Wortchef von Ö3, hatte mich angerufen und mich nach Ideen für eine Weihnachtsgeschichte gefragt, die sich vom üblichen Festwahn rund um das Geschäftsereignis des Jahres abheben würde. Wenige Monate zuvor hatte ich eine Geschichte für das SOS-Kinderdorf im bürgerkriegsgeplagten Somalia gemacht. Mir fielen die Erzählungen der Kinder und Jugendlichen dort ein, die mich lange beschäftigt hatten. Ihre Geschichten von Freunden, die sich Schleppern anvertraut hatten, um Europa zu erreichen. Geschichten, die von einer derartigen Traurigkeit und Ausweglosigkeit handelten, dass sie Bücher füllen würden. Bücher, die hoffentlich eines Tages geschrieben werden.
Ich rief Viktor Trager bei SOS-Kinderdorf in Innsbruck an und erkundigte mich nach Jugendlichen, die vor Kurzem in das weihnachtlich geschmückte Österreich gespült worden wären. Viktor erzählte mir von Hesmat und schilderte kurz seine unglaubliche einjährige Flucht, die ihn im Jahr zuvor an Weihnachten nach Österreich geführt hatte. Inzwischen lebte er in
einer Jugendeinrichtung des SOS-Kinderdorfs in Telfs und wartete auf seine Abschiebung. Die Amerikaner hatten Afghanistan von der Geißel der Taliban befreit, und der Junge, der eine so unglaubliche Flucht überlebt hatte, sollte nun wieder zu seinem Großvater nach Afghanistan zurückgeschickt werden. Dort habe sich die Situation beruhigt, hieß es. Er müsse nach dem Ende der Talibanherrschaft nicht mehr um sein Leben fürchten. Dass die Taliban nur der auslösende Faktor für die Ereignisse gewesen waren, die zum Tod von Hesmats Vater führten, und ihr Ende keine Garantie für Hesmats Überleben war, schien den Behörden kein Grund, den Jungen nicht zurückzuschicken.
Ich traf Hesmat zu einem Interview und war überrascht, wie schnell er Deutsch gelernt hatte. Seine Umgangsformen beeindruckten mich, und die Aussagen, die er traf, passten so überhaupt nicht zu einem inzwischen 14-Jährigen. Vielmehr klang Hesmat wie ein Junge, dem das Leben alles genommen hatte und den dieser unglaubliche Verlust zu einem nachdenklichen Erwachsenen machte. Er hatte nur einen Traum: Er wollte in Österreich bleiben, einen Beruf erlernen und irgendwann Apotheker oder Arzt werden. Er wusste, dass ihm die Abschiebung bevorstand, er wusste, dass der Traum nicht in Erfüllung gehen würde. Er bat mich mit keinem Wort um Hilfe. Wir redeten lange, und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn je wiedertreffen würde. Wir verabschiedeten uns wie zwei Menschen, die wieder in ihre jeweilige Welt zurückkehren würden.
Wenige Stunden nach der Ausstrahlung der Geschichte am nächsten Tag rief mich das Büro des damaligen Innenministers Ernst Strasser an. Der Minister hatte die Geschichte im Radio gehört und wollte dem Jungen helfen. Er überreichte Hesmat damals persönlich die Urkunde, die ihm garantierte, in
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