Hesse-ABC
Anschließend lud ihn der amerikanische Verleger
zum Essen ein und gab ihm Gelegenheit, von dem »unfairen ›deal‹
zurückzutreten«. So wenig wert war Hesse als Autor in den USA
zu dieser Zeit: ein einziger Verkaufsflop! Die Millionenauflagen
kamen erst Jahre später, nachdem Timothy Leary 1963 Hesse als
»Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis« ausgerufen und
empfohlen hatte, vor der LSD-Sitzung den »Siddhartha« und den
»Steppenwolf« zu lesen. So begann Hesses amerikanischer Sie-
geszug zur literarischen Kultfigur der Hippie-Bewegung. Nicht zu-
letzt warb die Rockgruppe »Steppenwolf« für Hesses Werk auch
unter sonst eher wenig belesenen Jugendlichen. So wurde aus
dem für heillos antiquiert geltenden Hesse ein Symbol der Ju-
gendbewegung. Ein Siegeszug, den Hesse nicht mehr erlebte. Er
wäre darüber zweifellos ungläubig erstaunt gewesen – so viel
»magisches Theater«! –, aber die gänzlich unliteratenhafte Vitali-
tät dieser Bewegung hätte ihm wohl auch gefallen.
V
Vasudeva
↑ Fährmann am Flusse der Erkenntnis (des Todes), der ↑ Siddhartha
die (dialektische) Natur der Wahrheit eröffnet.
Venedig
Touristenfalle und einmaliges Schauspiel zugleich. Hesse ist
überwältigt, als er 1901 auf seiner ersten Reise nach ↑ ltalien eine
Woche in der Lagunenstadt wohnt. Er jubelt laut oder schwärmt
still vor sich hin. Das ist der venezianische Rhythmus, die neue
jugendliche Intensität, die Hesse auf seiner ersten Italienreise in
sich aufsteigen spürt. Diese Freiheit, diese Sinnlichkeit! Der bis
eben als Antiquariatsgehilfe mühsam und schwer in dunklen
Räumen von einer Zukunft als Künstler träumte, hier fühlt er sich
als Virtuose des Augenblicks, südlich erweckt, verzaubert und
schöpferisch vorangetrieben von einer Flasche Wein zur nächsten,
von einem Museum, einer Kirche mit oder ohne Tintoretto weiter
und weiter. Wie im Rausch notiert der Dreiundzwanzigjährige eif-
rig seine Verzückungen (»Reisetagebuch 1901«, »Venezianisches
Notizbüchlein«). Quintessenz dieser ersten Reise in den Süden:
»Ich beginne hier die schöne Kunst des vollendeten ↑ Müßiggangs
gelehrig zu erfassen.«
Virtuose
Synonym für Hybris. Kunst als Markt der Eitelkeiten. Der Musiker,
der nicht mehr der ↑ Musik dient, sondern sich mit ihr profiliert. So urteilt Hesse den Virtuosen ab. Hesse, der lebenslang in der
Hausmusik und nicht in der Konzerthausmusik sein Ideal sieht.
Darum verachtet er den sich in den Vordergrund spielenden Musi-
kertypus mit zunehmendem Lebensalter immer offener. Fast könn-
te man meinen, hierin den puritanischen Geist der Mutter
wiederkehren zu sehen, die nur jene Musik nicht für sündhaft
hielt, die ein Teil des Gottesdienstes war.
Hesse hat ein Virtuosen-Konzert beschrieben (1928), in Tönen an-
gestrengtester Herablassung. Wir hören immer wieder davon,
wieviel so ein reisender Virtuose, der heute hier und morgen
schon wieder in Hamburg oder anderswo mit dem gleichen ef-
fektheischenden Programm auftrete, verdiene. Ein Virtuose, er-
gänzen wir, ist ein außerordentlicher Könner seines Fachs. Doch
was drängt sich uns auf an diesem Spektakel? Es hat weniger mit
Kunst als mit Geld und Eitelkeit zu tun. Eine Atmosphäre, die sich
auf die Zuschauer überträgt. Selbst in der Pause, erfahren wir,
»rechnete mein Vordermann seinem Nachbarn vor, wieviel tau-
send Franken der Künstler in dieser halben Stunde schon verdient
habe«. Kunst droht im Konsum zu verschwinden, weil es an De-
mut dem Werk gegenüber fehle. Wenn Hesse über den (verachte-
ten) Virtuosen spricht, so ist damit alles gesagt über das
Vermarktungsgebaren eines damals bereits anhebenden Starkults,
der der Kunst im ganzen sehr viel mehr schadet als ihr nutzt: »War
er ein kalter Rechner, der es verstand, die Menschen genau an
jener empfindlichen heiklen Stelle zwischen Tränendrüse und
Geldbeutel zu kitzeln, wo es Tränen und Taler regnete, wenn man
den Zauber verstand?«
In einem Brief aus dem Jahre 1947 antwortet Hesse auf die zwan-
zig Jahre zuvor selbst gestellte Frage im Zusammenhang mit sei-
nem ↑ » Glasperlenspiel«: »Das Pro blem des Virtuosen ist dasselbe wie in Kastalien, die Persönlichkeit ist Voraussetzung, es geht
nicht um sie, sondern um ihre Fähigkeit zum Einordnen in die
Hierarchie.« Es geht also um nichts weniger als die Stellung des
einzelnen zum Gesellschaftsganzen. Und hier wird Hesse nach
dem Zweiten Weltkrieg
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