Hesse-ABC
verwerten lassen.«
So unter den alten Schulfreunden und doch nicht gleichrangig zu
sein, ist demütigend. Das treibt ihn ganz in die Welt der Bücher,
deren Zauber er hier entdeckt: »Jede Stunde scheint mir verloren,
die ich nicht über guten Büchern oder Zeitschriften hinbringe ...
Die versäumten Augenblicke haben mir nie schwerer gewogen als
jetzt.«
Im Sommer 1899 nimmt er seinen Abschied, mit guten Zeugnis-
sen. Mit einigen Freunden, unter ihnen Ludwig ↑ Finckh , macht er Urlaub in Kirchheim in der Schwäbischen Alb. Sogleich verliebt er
sich in die Nichte des Kronenwirts Julie Hellmann. Ein »Liebes-
märchen« mit – poetischen – Folgen. Im Lulu-Kapitel des »Her-
mann Lauscher« klingt diese Romanze schwermütig-verklärt nach.
Tucholsky
Er hat Hesse bewundert. Aber ohne dabei seine Schwächen
schönzureden. So hat er sich nicht gescheut, Hesses ↑ Gedichte
»rührend schlecht« zu nennen. Vielleicht darum, weil Hesse zu
wenig kalter Maskenspieler war, immer zu sehr heißer Bekenner.
Aber das sich einer kalten Beobachterposition Verweigern (wie sie
etwa Gottfried Benn perfektionierte) bringt neben Verlusten auch
Gewinne. Man spürt jederzeit, hier redet einer, der noch zu Eksta-
se und Faszination fähig ist. Hesse zieht uns mitten hinein in jene
Atmosphäre, der er sich mit Worten anzuverwandeln sucht. Tu-
cholsky hat genau das bemerkt: »Er kann, was nur wenige können.
Er kann einen Sommerabend und ein erfrischendes Schwimmbad
und die schlaffe Müdigkeit nach körperlicher Anstrengung nicht
nur schildern - das wäre nicht schwer. Aber er kann machen, daß uns heiß und kühl und müde ums Herz wird.« (1914) Hesse, der
Reinliche, der so gern verrucht sein, lügen und betrügen möchte,
weil er das ästhetisch durchaus reizvoll findet. Aber der sein pieti-
stisches Erbteil doch so verinnerlicht hat, daß ihm dies nicht recht
gelingen will. In seinen Texten nicht und im Leben auch nicht.
Tucholsky hat diesen Lebenswiderspruch ausgesprochen: »Der
Idylliker Hesse, der für meinen Geschmack fast niemals süßlich
gewesen ist, verwandelt sich verhältnismäßig früh in einen zerris-
senen, mit sich zerfallenen, tappenden, suchenden und unzufrie-
denen Romantiker, der keiner sein will, der doch einer sein will,
der sich einen Turban aufsetzt und drunter ganz leicht pietistisch
schwäbelt.« (1927)
Das Wichtigste jedoch, das, was Tucholsky am stärksten beein-
druckt, ist, daß Hesse beständig die Wandlung sucht, daß er
»niemals eine Marke auswalzt«.
Turmuhrenfabrik
Von November 1893 bis Mai 1894 wohnt Hesse, nach seiner genau
drei Tage währenden Buchhändlerlehre in Esslingen, zu Hause bei
den Eltern in Calw. Er liest, arbeitet im Garten oder hilft dem Vater
im Büro. Im Juni 1893 entschließt sich der Sechzehnjährige zu
einem Praktikum in der Turmuhrenfabrik Perrot & Sohn. Dort er-
wartet ihn eine Schlosserlehre, bei der er zuerst einmal nur mit
der Feile am Schraubstock steht. Dennoch läuft Hermann das erste
Mal in seinem Leben nicht einfach weg, sondern er lernt es, sich
in die Welt der körperlichen Arbeit einzufügen; ja er entdeckt hier
sogar eine Echtheit der Existenz, die seinem bisherigen Schüler-
dasein abging. Er lernt die Arbeitswelt auf realistische Weise se-
hen. Sie erscheint ihm auf herbe Weise poetisch, voller Zoten,
unehelicher Kinder und Widerstandsgeist. Aber auch voller Roheit
und Elend. Doch die regelmäßige körperliche Arbeit tut ihm gut:
»Jetzt erst habe ich allmählich wieder Ruhe und Heiterkeit gefun-
den, bin geistig gesund geworden ...« Immerhin vierzehn Monate
dauerte die Ausbildung in der Calwer Turmuhrenfabrik. Die Welt
der Mechanik hat Einzug in Hesses Erfahrungsschatz genommen.
U
Unterm Rad
Hier schildert Hesse die Zeit in ↑ Maulbronn als Versuch einer doktrinären Gehirnwäsche, der sich der talentiert-sensible Hans Gie-
benrath am Ende nur durch den Selbstmord zu entziehen vermag.
Wie oft in Hesses Texten hat auch Giebenrath ein ihm entgegen-
gesetztes Alter ego: Hermann Heilner. (»... Hermann Heilner und
Hans Giebenrath, der Leichtsinnige und der Gewissenhafte, der
Dichter und Streber.«)
Diese das Bildungssystem seiner Zeit vehement kritisierende Er-
zählung schreibt Hesse 1903 noch in seinem Elternhaus. Die Erin-
nerung an sein eigenes Martyrium ist frisch. In Giebenrath
projiziert er sich selbst. Ebenso wie dieser hat Hesse im Juni 1891
dreizehnjährig das den kostenlosen
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