Hesse-ABC
architektonisch echter und landschaftlich
größer erscheint, das findet in Montagnola sich ausgeglichen
durch die echtere Wesensart des Dichters, der hier wohnt. Es
scheint in der Tat, als sei einmal ein Sprößling der Familie Camuz-
zi nach Ravello gekommen, ehe er im malerischen Tessin sein
Haus baute und seinen Garten anlegte.« So wunderbar die Som-
mer auch sind, so furchtbar friert Hesse im Winter in dem schlecht
heizbaren Gemäuer. Sein Rheuma wird immer schlimmer, so daß
er regelmäßig Badekuren unternehmen muß ( ↑ » Kurgast «). In der
»Casa Camuzzi« wohnt Hesse bis 1931, als er Ninon Dolbin heira-
tet und in die ↑ Casa Rossa zieht.
Casanova
Hesse selbst ist ein die Schönheit verklärender Beobachter des
Weiblichen, kein Eroberer. Wie alle romantischen Schwärmer kei-
ne Tatmenschen sind. Sie brauchen die inspirierende Kraft des
Erotischen und hassen zugleich die Störung ihres seelischen
Gleichgewichts. Sie suchen körperliche Nähe und fürchten sie
doch wieder als notorische Einzelgänger mit Hang zum Hysteri-
schen.
Casanova ist der Inbegriff des Verführers als Lüstling. Stefan
Zweig hat ihn einen »typischen Augenblicksvielfraß« genannt. Das
ist für ihn einer, der jeder wollüstigen Gelegenheit nachgibt, wo
sie sich bietet. Zweig sieht hier zu wenig Selbstzucht, ohne die die
Werke eines Künstlers keine Form finden. Casanova aber macht
sein Leben zum Kunstwerk: den genossenen Moment. Das immer-
hin torpediert den bürgerlichen Begriff des Künstlers, noch bevor
sich dieser überhaupt etablieren konnte.
Der Sinnenmensch Hesse erinnert sich, wie verboten Casanova in
seiner Jugend war: »nichts als dunkle Gerüchte«. Unbedingt
schätzt er dessen »prachtvolle Vitalität«. Und ihn fasziniert die
»innige Verbindung von Virtuosität und Naivität in diesem geris-
senen Lebenskünstler«. Ein Virtuose konnte er vor allem darum
sein, weil ihm »die endlosen, lähmenden und verdummenden
Schuljahre erspart blieben, die wir heute für unerläßlich halten,
um die Jugend zahm zu kriegen«. So der Befund des glänzenden
Anti-Philisters Hesse. Was ihn am Typus des vollkommenen Sin-
nenmenschen Casanova dennoch stört, das ist der Mangel an Me-
taphysik. Nie packe ihn das Grauen der Liebe, nie schwindele ihn
vor ihren Abgründen. Erst in der Einsamkeit von Schloß Dux, alt
und lendenlahm geworden, scheint ihm das Leben »nicht mehr
ganz so einwandfrei, kommt es ihm ein wenig problematisch vor«.
Aber kann man Virtuose des sinnlichen Augenblicks und zugleich
geistige Räume ausmessender Metaphysiker sein? Genau das ist
wohl Hesses Lebens-Ideal. Er hat es einmal so formuliert: »Be-
trachtung ist nicht Forschung oder Kritik, sie ist nichts als Liebe.
Sie ist der höchste und wünschenswerteste Zustand unserer See-
le: begierdelose Liebe.« Begierde heißt zwanghaft in Besitz neh-
men. Dem unruhevollen Trieb für Momente die Illusion der
Zufriedenheit geben. Nicht einmal Casanova auf Schloß Dux ist
gänzlich frei von Begierde. Also malt uns Hesse hier doch falsche
Idyllen? Nein, er sagt uns mit Schopenhauer, was für ihn voll-
kommene Betrachtung ist: etwas zu lieben, ohne es besitzen zu
wollen. Er sagt nicht, alle Liebe sei Betrachtung.
Was macht den Verführer Casanova für uns als Typus überhaupt
noch interessant? Er besaß Stil, war ein Virtuose des erotischen
Fachs. Er hatte noch Ehrfurcht vor der Liebe: »Sei es auch nur die
Casanova-Liebe, diese galante, falterhafte, etwas verspielte und
jünglingshafte ewige Verliebtheit – auch sie scheint heute außer
Kurs geraten zu sein, ebenso wie die empfindsame Liebe des
Rousseau und des Werther, ebenso wie die tief glühende Liebe
der Helden Stendhals. Es scheint heute weder den magischen
noch den virtuosen Liebenden mehr zu geben, nur noch den fla-
chen Heiratsschwindler oder den Psychopathen.«
Die Treue zur treulosen Liebe fasziniert Hesse, der ohnehin nicht
an Wahrheitsfindung in asketischen Klosterwelten glaubt. Im Jah-
re 1906, zur Zeit der Bodensee-Tristesse, schreibt er die Erzählung
»Casanovas Bekehrung«. Der alte, müde gewordene Casanova,
immer auf der Flucht und auf der Suche nach einem Ziel des ewi-
gen Unterwegsseins, verliebt sich in den Gedanken, seine Tage in
einem Kloster zu beschließen. Ein bißchen lesen, ein wenig
schreiben - viel Ruhe. Alles ist perfekt, jedoch am Vortage seines
Klostereintritts begegnet ihm wieder das, was schon sein Leben
lang an
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