Hesse-ABC
»Weit
öfter, als mein guter Vater ahnte, bin ich als kleiner Bub für kurze
Strecken blinder Passagier auf einem Floß gewesen. Es war streng
verboten, man hatte nicht nur die Erzieher und die Polizei gegen
sich, sondern leider meistens auch die Flößer. Schöneres und
Spannenderes gibt es für einen Knaben nicht auf der Welt als eine
Floßfahrt. Denke ich daran, so kommt mit hundert zauberhaften
Düften die ganze Heimat und Vergangenheit herauf.«
Cannstatt
Ließ sich aus dem Fünfzehnjährigen doch noch ein folgsamer Zög-
ling machen? Natürlich nicht, denn Hesse, der Nervenheilanstalt
Stetten gerade noch einmal entronnen, war der Pennälerwelt in-
nerlich längst entwachsen. Auf dem zum Seminar in Maulbronn
vergleichsweise liberalen Gymnasium lebte Hesse fast schon wie
ein Student. Mit Verweis auf seine empfindlichen Nerven bat er
sich ein eigenes Zimmer aus und bekam eine Dachkammer für
sich allein. Aber die Schule langweilte ihn: »Ob diese lateinische
Satzperiode klassisch ist oder nicht, ob dieser Funke negativ oder
positiv ist, ob dieser Kirchenvater ein Römer oder ein anderer Esel
gewesen, ist mir so ganz einerlei.« Aber er mußte trotz der über-
großen Langeweile durchhalten, denn sein Ziel war es, die Reife
für das »Einjährige«, den einjährig-freiwilligen Militärdienst zu
erwerben. Pazifistisch gebärdete er sich hier noch längst nicht; in
einem Anfall von Lebensekel und Langweile tauschte er seine
Schulbücher gegen einen ↑ Revolver ein. Der Sechzehnjährige wollte nur eins: die unselige Schülerexistenz hinter sich lassen.
Das trieb ihn in die Revolte gegen die Welt der Väter, die mit der
Pflicht immer jede Neigung vergewaltigte. Hermann begann zu
rauchen und trinken, trieb sich herum – wollte die Spießerwelt
provozieren. Das Ganze nannte er später seine »lustige Cannstät-
ter Zeit«. Dennoch besteht er das Einjährigen-Freiwilligen-
Examen. Nun ist es ihm aber endgültig genug mit der Schule. Er
will hinaus in die wirkliche Welt. Ein Onkel vermittelt ihm eine
Lehrstelle in Esslingen beim Buchhändler Mayer. Aber nur ganze
drei Tage hält er es dort aus, dann läuft er weg. Das Schicksal ei-
nes Lehrlings, so hat er erfahren, ist noch sehr viel unkomfortab-
ler als das eines Gymnasiasten.
Casa Camuzzi
Hesses Zuflucht in ↑ Montagnola a m Luganer See. Der Palazzo ist die »Imitation eines Barock-Jagdschlosses«, wie es Hesse formuliert. Oder noch bündiger: »Meine noble Ruine«. Darin gleicht
Hesses Behausung den Schlössern, auf die es Rilke zog: Voll ver-
blichenem Charme. Ins Tessin kam Hesse im April 1919. Hier woll-
te er neu anfangen: »... ich war jetzt ein kleiner abgebrannter
Literat, ein abgerissener und etwas verdächtiger Fremder, der von
Milch und Reis und Makkaroni lebte, seine alten Anzüge bis zum
Ausfransen auftrug und im Herbst sein Abendessen in Form von
Kastanien aus dem Walde heimbrachte.« Vor allem aber über-
wiegt ein Gefühl der Befreiung: »Hier war ich nicht Ehemann und
Familienvater, hier war nur ich allein zu Hause...« Und es wurde,
jetzt, nachdem er endlich von der Last der ↑ Gefangenenfürsorge in
Bern befreit war, ein wahrhaft vor Schöpfungslaune überfließen-
der Sommer, in dem ↑ » Klein und Wagner « und ↑ » Klingsors letz ter Sommer« – zwei seiner stärksten Texte – entstanden. Die Dachwohnung entsprach ganz Hesses Vorstellungen: »Dies schöne,
wunderliche Haus hat mir viel bedeutet und war in mancher Hin-
sicht das originellste und hübscheste von allen denen, die ich je
besaß oder bewohnte. Freilich besaß ich hier gar nichts, sondern
bewohnte nur eine kleine Wohnung von vier Stuben als Mieter.«
Aber vor allem hat er hier von einem kleinen Balkon einen phan-
tastisch freien Ausblick, den er über alles liebt. Von Mai bis Sep-
tember steht die Flügeltür weit offen für Luft und südliche Sonne.
Hier lebt Hesse auf, hier fühlt er sich – die erste Zeit – als Bohemi-
en. Hugo Ball hat die Casa Camuzzi mit der Villa Rufolo in Ravello
an der süditalienischen Amalfi-Küste verglichen. Hier hatte Wag-
ner Teile des »Parsifal« komponiert und beim ersten Anblick aus-
gerufen: »Klingsors Zaubergarten ist gefunden.« Ball über die
frappante Ähnlichkeit der beiden Anwesen: »Die Analogie geht so
weit, daß auch die maurische Gotik von Ravello ihr Widerspiel
findet in den moresken Türmchen und Söllern des Palazzo Camuz-
zi. Was dort in Süditalien
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