Hesse-ABC
einen Ausdruck zu geben, darin liegt der Sinn
von Leben. Darum heißt es im »Glasperlenspiel«: »Du sollst dich
nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, sondern nach einer
Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in
Begriffen und Büchern.« Ein Gedanke übrigens, wie ihn auch die
Mystiker aus dem Umfeld des Pietismus (Johann Arends »Wahres
Christentum«, Gottfried Arnolds »Historie und Beschreibung der
mystischen Theologie«) immer wieder vorbrachten, der schließ-
lich auch für Goethe zentral wurde. Religiosität ist nichts, was
man in Kirchen und Dogmen sperren darf, sondern das Bedürfnis
des Einzelnen, sich als sinnhaftes Teil eines Ganzen zu fühlen –
und als Teil selbst immer schon ein Ganzes zu sein.
Bürger
Auf den ersten Blick, scheint es, ist der Bürger nur das phantasie-
lose Gegenstück zum Künstler. Zu nichts anderem da, als daß die-
ser verachtungsvoll auf ihn herabschauen kann. Aber so einfach
macht es sich Hesse nicht, denn auch er weiß: Bürgerliche Exi-
stenz ist die Rettung vor dem rauschhaften Abgrund, in den jede
unbefestigte Existenz hinabzugleiten droht. Ein Bollwerk der Ord-
nung gegen das Chaos. Aber ganz so fraglos wie Thomas Mann
mochte Hesse den Bürger in sich denn doch nicht bejahen. Er
ringt mit ihm, ohne ihn doch gänzlich zurückzulassen. Nur hat der
unbefestigte Wanderer immer drei Schritt Vorsprung vor den bür-
gerlichen Normen und Gesetzen, die ihn beengen und unschöpfe-
risch machen. Hesse hat das Spiel mit dem Bürger, der er auch ist,
kultiviert. Er blickt ironisch auf sich immer noch Befangenen und
nie gänzlich Freien und preist die Unbefestigten, die Knulps und
Klingsors, die echten Vagabunden und die echten Künstler. Die
dann auch den Preis zahlen: mit ihrem Außenseitertum, mit Ver-
achtung und Untergang.
In seiner »Wanderung« hat Hesse 1920, in jenem Jahr der Ab-
schiede (von der Ehe und anderen Sicherheiten), den unauf-
hebbaren Bürger-Künstler-Gegensatz auf wunderbar leichte Weise
formuliert: »Du kannst nicht ein Vagabund und Künstler, und
daneben auch noch ein Bürger und wohlanständig Gesunder sein.
Du willst den Rausch haben, so habe auch den Katzenjammer!
Sagst du Ja zum Sonnenschein und den holden Phantasien, so
sage auch Ja zum Schmutz und Ekel! Alles ist in dir, Gold und
Dreck, Lust und Pein, Kinderlachen und Todesangst. Sag Ja zu
allem, drücke dich um nichts, suche nichts hinwegzulügen! Du
bist kein Bürger, du bist auch kein Grieche, du bist nicht harmo-
nisch und Herr deiner selbst, du bist ein Vogel im Sturm. Laß
stürmen! Laß dich treiben! Wie viel hast du gelogen! Wie tau-
sendmal hast du, auch in deinen Gedichten und Büchern, den
Harmonischen und Weisen gespielt, den Glücklichen, den Abge-
klärten! So haben sie im Krieg beim Angriff die Helden gespielt,
während die Eingeweide zuckten! Herrgott was für ein Aff und
Spiegelfechter ist der Mensch – zumal der Künstler – zumal der
Dichter– zumal ich!«
C
Calw
Die Erzählungen, die Hesse in Gaienhofen schreibt, spielen oft in
Gerbersau, einer schwäbischen Kleinstadt, in der man unschwer
Hesses Geburtsstadt Calw erkennen kann. In einem Gedicht hat
Hesse etwas euphemistisch geschrieben: »Die schönste Stadt von
allen aber, die ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein kleines, altes, schwäbisches Schwarzwaldstädtchen.«
Calw hat zu dieser Zeit etwa viertausendfünfhundert Einwohner.
Als Mittelpunkt der schwäbischen Textilindustrie war es einmal
die reichste Stadt Württembergs gewesen. Als Hesse hier am 2.
Juli 1877 geboren wird, ist es mit dieser Herrlichkeit längst vorbei.
1650 war hier eine Zeughandelscompagnie gegründet worden, in
der sich Tuchmacher und Färber zusammengeschlossen hatten,
die die Waren in alle Welt vertrieb. Aber der Konkurrenz durch
mechanische Baumwollspinnerei, die Ende des 18. Jahrhunderts
ihren Siegeszug antrat, waren die Tuchmacher nicht gewachsen.
Das einst blühende Calw verkümmerte zu einem Provinzhandwer-
kernest. Ebenso erging es dem Holzhandel. Mit dem Entstehen
einer Eisen- und Stahlindustrie stellte sich auch der Schiffbau um,
man brauchte immer weniger Holz. Die in den schwäbischen Wäl-
dern bislang geschlagenen und zu Flößen zusammengebundenen
Stämme wurden nun immer seltener auf Nagold, Enz, Neckar und
Rhein nach Holland verschifft. Der achtzigjährige Hesse erinnert
sich aber noch an diese Flöße, die er als Kind in Calw sah:
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