Hesse-ABC
bleibt. Denn da war, wie Hugo Ball schreibt, »eine
Künstlichkeit, die geradezu abstieß; da war eine dunkle, unsympa-
thische Qualwelt, die jedermann auf sich zurückwies«.
Siddhartha erkennt, so wie es keine Lehre gibt, die einem selbst
den Weg weist, so kann man auch niemand anderem – erst recht
nicht dem eigenen Sohn – den Weg weisen: »Welcher Vater, wel-
cher Lehrer hat ihn davor schützen können, selbst das Leben zu
leben, selbst sich mit dem Leben zu beschmutzen, selbst Schuld
auf sich zu laden, selbst den bitteren Trank zu trinken, selber sei-
nen Weg zu finden?« Jeder muß sich die entscheidende Frage:
»Wie soll ich leben?« ganz allein beantworten. Siddhartha: der
Vollkommene. Wir anderen aber sind eher vom Schlage
↑ Govindas , wir werden die Sehnsucht nicht los. »Leid und ewiges Suchen stand in seinem Blick geschrieben, ewiges Nichtwissen.«
Allein Siddhartha, der Brahmanensohn, wird zum Heiligen, der die
Welt überwindet. Hier kommt ein Motiv zum Tragen, in dem Hugo
Ball eine Synthese von Dostojewski und Nietzsche erkannt hat. So
wie bei Dostojewski sich der Unterschied zwischen einem Verbre-
cher und einem Heiligen auflöst, die »Nachtseite des Lebens« in
die Humanität einbezogen werden soll, so soll sich auch der Ge-
gensatz zwischen Europa und Asien als ein nur scheinbarer her-
ausstellen. Denn jeder Gegensatz ist letztlich vorläufig, wird in
einer höheren Einheit aufgehoben. »Das bedingt eine neue Ein-
stellung zu den Verdrängungen, als da sind vierter und fünfter
Stand, Proleten, Handwerksburschen, Déracinés, Entgleiste, Aus-
gestoßene; aber auch zu Verbrechern, Korruption, Mord, Diebstahl
und Laster.«
Dann bekommt »Siddhartha« etwas Prophetisches, Nietzsches
»Zarathustra« verwandt. Die Kernaussage ist die einer »Zeitaufhe-
bung«. Denn der Strom, an dem ↑ Vasudeva und schließlich Siddhartha Fährleute sind, ist der Zeitstrom. Er teilt – und verbindet
auch wieder – Leben und Tod. Hier wird jedes Überwinden zu-
gleich Untergang, jeder Untergang eine Auferstehung. Alle Lehre,
Askese oder Meditation, auch das Nirwana, sind dem nachgeord-
net, nur das Mittel, nicht das Ziel. Anders gesagt ist das Ziel die
Wiedergewinnung des verlorenen Anfangs, der Kindheit. Aber als
Wissender, ein Wiedergeborener! Darum kann Siddhartha auch in
der Welt der »Kindermenschen« nicht leben. Es ist ihr Mangel an
Metaphysik, der es ihm unmöglich macht: Ihre Lebensziele sind zu
klein. »Er sah Menschen auf eine kindliche oder tierhafte Weise
dahinleben, welche er zugleich liebte und verachtete. Er sah sie
sich mühen, sah sie leiden und grau werden um Dinge, die ihm
dieses Preises ganz unwert schienen, um Geld, um kleine Lust, um
kleine Ehren, er sah sie einander schelten und beleidigen...« Erst
müssen wir uns trennen von der Welt, erst uns verweigern – um
uns als eins mit ihr zu begreifen. Aber als in der Fremde und an
der Fremde Verwandelte. Das ist die Krise des Steppenwolfes.
Seine wache Intelligenz läßt sich nicht um den Unterschied betrü-
gen, kauft nicht die Einheit, das Einverständnis mit der Welt zum
Billigpreis: »Viele Jahre mußte ich damit hinbringen, den Geist zu
verlieren, das Denken wieder zu verlernen, die Einheit zu verges-
sen. Ist es nicht so, als sei ich langsam und auf großen Umwegen
aus einem Mann ein Kind geworden, aus einem Denker ein Kin-
dermensch? Und doch ist dieser Weg sehr gut gewesen, und doch
ist der Vogel in meiner Brust nicht gestorben. Aber welch ein Weg
war das! Ich habe durch so viel Dummheit, durch so viel Laster,
durch so viel Irrtum, durch so viel Ekel und Enttäuschung und
Jammer hindurchgehen müssen, bloß um wieder ein Kind zu wer-
den und neu anfangen zu können.« Wir also sind unterwegs wie
der Zeit-Fluß, wir wissen bis zum Schluß nicht, was auf uns war-
tet, wir, immer halbe Heilige und ganze Sünder. Was also sollen
wir tun? Hesse faßt das Motto des Buches als sein Lebensmotto in
den Worten Siddharthas zusammen: »Ich kann denken. Ich kann
warten. Ich kann fasten.«
Sieburg, Friedrich
Aus seinem Widerwillen gegen nationalsozialistische Mitläufer
unter seinen Kollegen machte Hesse keinen Hehl. Eine Ausnahme-
stellung nahm dabei nur Ernst Bertram ein, den auch Thomas
Mann wegen seines frühen Nietzsche-Buches schätzt und der sich
1948 darum zusammen mit Hesse bei den Besatzungsbehörden für
Bertrams Entnazifizierung (und Wiedereinsetzung als
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