Hetzer & Kruse 03 - Schattengift
noch. Es war fast alles wie früher. Vergilbte Wände mit den Bildern, die er zurückgelassen hatte. „Die letzte Fahrt der Téméraire“ von William Turner. Märchen und grausame Wirklichkeit in einem Gemälde. Daneben ein paar kleinere Winterszenen von Julius von Klever und ein einsames Schiff von Gustave Courbet. Einsam, wie ich, dachte er bei sich. Es liegt nahe dem Ufer und hat doch keine Bodenhaftung. Es könnte auf das Meer hinausfahren, aber es sind keine Segel gesetzt. Auf jedem meiner Bilder ist Wasser, überlegte er. Das Wasser zieht mich an. Mit seiner Tiefe, seiner Unergründlichkeit. Es trägt einen, lässt sich aber nicht bezwingen.
Peter Kruse hatte erkannt, dass es für seinen Kollegen Wolf nicht einfach gewesen war, den Raum zu betreten. Noch beim Herunterdrücken der Klinke hatte er fast unmerklich gezögert und war dann eingetreten, wie ein Zeitreisender. Er ließ ihn sich in seine Gedanken verlieren, gab ihm die Minuten, sich zurechtzufinden in der Vergangenheit.
Wolf ging zum Fenster und sah, wie sich aus den Pfützen Rinnsale von der Fensterbank hinabschlängelten.
Wasser, dachte er, sie war wie Wasser für ihn gewesen.
Lebensnotwendig. Er ahnte jetzt, was ihn bei Marie-Sophie Schulze so irritiert hatte. Sie war ihr ähnlich.
Kruse räusperte sich, um seinen Kollegen in die Wirklichkeit zurückzuholen.
„Sag mal, Wolf, sollen wir nun eine Streife bitten, gelegentlich im Nordkamp vorbeizufahren?“
„Nee, lass mal, ich denke nicht, dass es nötig sein wird. Es ist bestimmt wie du gesagt hast, sie war das Zufallsopfer eines Spinners.“
„Wenn der ihr wirklich etwas hätte antun wollen, dann hätte er nach dem ersten Knöchelstreifschuss etwas höher zielen sollen.“
„Du bist ja gut. Da fällt mir überhaupt etwas ein.
Muss sie sich nicht gebückt und nach der Wunde geschaut haben?“
„Stimmt, und auf was für eine Idee hat dich das gebracht?“
„Was würdest du tun? In die Hocke gehen und nachsehen, oder? Dazu müsstest du den Kopf aber doch ziemlich nah in Richtung Fuß nehmen. Ich denke, sie hat wahnsinniges Glück gehabt, dass sie nicht beim zweiten Schuss zufällig erschossen worden ist, denn die Schüsse folgten doch ziemlich schnell aufeinander.
Das jedenfalls hat Frau Schulze zu unseren Kollegen gesagt.“
„Ja, da könntest du wirklich recht haben. Es muss ihr ganz schön um die Ohren gepfiffen haben. Ich glaube, sie ist dann in Deckung gerobbt.“
„Aber da muss sie doch Todesangst gehabt haben?
Sie konnte nicht wissen, dass der Täter nach dem zweiten Schuss aufhören würde. Er hätte sie auch verfolgen können.“
„Vielleicht hat sie geschrien und gehört, wie jemand weggelaufen ist.“
„Ich frage gleich mal nach, ob der Bericht schon da ist, den die Kollegen vor Ort angefertigt haben. Dann wissen wir mehr.“
Aus den Aufzeichnungen erfuhren Hetzer und Kruse, dass die Schüsse tatsächlich in kurzem Abstand gefallen waren. Marie-Sophie Schulze hatte angegeben, vor Angst davongekrochen zu sein, nachdem der Schmerz des Durchschusses etwas nachließ. Gehört oder gesehen hatte sie nichts.
„Wie lange dauert es wohl, bis der Wundschmerz nachlässt?“ Hetzer machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Keine Ahnung, ob es da bei unterschiedlichen Verletzungen auch andere Zeitspannen gibt. Wir können Nadja fragen.“ Sofort lag ein Strahlen in Kruses Augen.
„Später, die genaue Spanne ist jetzt nicht so wichtig, aber wir können wohl davon ausgehen, dass es schon so einen Moment gibt, wo Schmerz und Schock groß sind, bevor man sich aufraffen kann, das Weite zu suchen.“
„Das ganz bestimmt.“
„Ich schätze, das kann gut fünfzehn bis dreißig Sekunden dauern. Und das ist im Hinblick auf einen möglichen weiteren Schuss eine lange Zeit“, grübelte Hetzer.
„Wenn nicht die Angst größer ist als der Schmerz und das Adrenalin die lebenserhaltenden Funktionen insoweit ankurbelt, dass eine Flucht sofort möglich ist“, gab Peter zu bedenken.
„Stimmt, aber ich glaube, hier geraten wir ins Philosophieren. Wir müssen Frau Schulze noch mal fragen.“
„Rufst du sie an oder soll ich?“
„Ich mach schon.“ Hetzer griff zum Hörer.
In der Praxis
Anke Tatge hatte an diesem Morgen schon von Anfang an schlechte Laune. Alles war grau in grau. Es regnete, was der Himmel hergab, sodass sie sich entschloss, eine Jacke anzuziehen. Normalerweise fror sie auch im Winter nicht, aber diese Feuchtigkeit kroch überall hin, und das war
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