Hetzer & Kruse 03 - Schattengift
dich gleich angefühlt?“ Wolf tat alles weh bei dieser Frage, weil er die Antwort nicht kannte.
Er traute sich nicht, ihr in die Augen zu sehen, aber sie sagte nichts. Da sah er sie an, sah, dass sie leise weinte.
„Morgen muss ich ins Krankenhaus.“ Ihre Stimme war fast unhörbar. „Wir müssen eine andere Bleibe für Aisha finden.“
Wolf war sprachlos. Die Angst, die er gefühlt hatte, manifestierte sich. Weil sie weinte. Sie bekam Gesichter, formte sich aus den Tränen in das von Moni und Marie oder seiner Verlobten. Ich bin ein Fluch für die Menschen, die ich liebe, dachte er. Sie sind zum Sterben verurteilt. Ich sollte aufhören zu lieben. Noch bevor er wusste, weswegen Moni fort musste, war er sicher, dass es etwas Endgültiges war. Er hätte sie gerne in den Arm genommen, aber er konnte sich nicht bewegen. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Er war regungslos.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, riss Moni ihn aus seinen Gedanken. „Wir müssen jemanden für Aisha finden, heute noch!“
Es klang dringend.
„Weshalb?“, fragte er gelähmt.
„Weil ich ins Krankenhaus muss.“
„Nein“, sagte er monoton, „ich wollte wissen, warum du dorthin musst.“
„Ich habe Knoten in der Brust. Sie müssen nachschauen, ob es Krebs ist.“ Monis Stimme zitterte, aber sie nannte die Dinge beim Wort. Es machte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Zeit war kostbar geworden.
„Ich liebe dich!“, sagte er und war selbst von seinen Worten überrascht, die ganz aus dem Innersten kamen und endlich gesagt werden mussten. „Und ich möchte dich nicht verlieren.“ Mit einem Mal wusste er, dass das für sein Leben ganz entscheidend war. Nichts war je wichtiger gewesen. Von allen Menschen, die er je geliebt hatte, war sie die Einzige gewesen, die er selbst so nahtlos in sein eigenes Leben eingefügt hatte, als ob ihre Anwesenheit selbstverständlich war. Wie Wasser oder Luft. Warum musste er das erst jetzt erkennen?
Die Verbindung zwischen ihnen war untastbar gewesen. Er hatte sich nie die Frage gestellt, wie es ohne sie wäre, weil der Gedanke so absurd war.
Moni war bei seinen Worten zusammengezuckt. Sie stand auf und ging in die Küche. Das Messer der Furcht in ihm bohrte sich tiefer. Er folgte ihr, stand hinter ihr und der Spüle.
„Moni“, sagte er sanft, „ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber ich wollte, dass du es weißt, jetzt, wo ich es endlich begriffen habe.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es ändert sich nichts zwischen uns, wenn du es nicht willst!“
„Ich bin fast sechzig“, sagte sie resigniert, „und vielleicht krank.“
„Und“, fragte er, „was soll mir das sagen? Glaubst du, das beeinflusst meine Gefühle?“
Sie drehte sich um und sah ihn an. „Ich habe Angst!“, sagte sie. „Angst, zu alt für dich zu sein, Angst, krank zu sein, Angst, dich zu lieben, weil ich nicht weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.“ Er kam näher, nahm ihr nasses Gesicht in seine Hände und flüsterte: „Und das hält dich vom Lieben ab?“
„Nein…“
„Dann tu’s doch einfach!“
Sie lächelte. Er wischte die Tränen von ihrer Wange und drückte sie an sich. Es fühlte sich gut und richtig an.
„Komm“, sagte er, „wir lassen alles stehen und liegen für etwas ganz Wichtiges.“
Dann nahm er ihre Hand, führte sie zum Sofa.
„Ich möchte einfach deine Nähe spüren. Lass uns langsam beginnen, einander neu kennenzulernen.“ Sie nickte und legte sich auf die Seite. Er kroch hinter sie, wie sie es schon oft gemacht hatten, aber heute war es anders. Wie ein Bild, das endlich vollkommen war. Es war vertrauter und intimer als alles andere, was sie noch vor sich hatten, wenn die Zeit gekommen war.
Schwerkraft
Tränen liefen über Ankes Gesicht, noch bevor Heiner ihre Wohnung verlassen hatte. Es waren Tränen der Wut, der Traurigkeit und des Schmerzes. Schmerz konnte so viele Gesichter haben. Er hatte sie ihr ganzes Leben lang begleitet, in gescheiterten Beziehungen, Krankheiten und Ängsten.
Die Praxis war ihr Mittelpunkt gewesen, ihr Lebenshalt, ihr Lebensinhalt – und das Arbeitsverhältnis zu Heiner die einzig feste Beziehung, die sie jemals gehabt hatte. Bis jetzt, bis durch einen dummen Zufall herausgekommen war, dass sie um ihren Platz im Leben gekämpft hatte. Was war denn so schlimm daran gewesen, fragte sie sich? Das musste doch jeder einsehen.
Aber Heiner hatte es nicht verstanden. Der, von dem sie immer geglaubt hatte, er sei so wie
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