Hetzer & Kruse 03 - Schattengift
musste dringend den Ast entfernen und die Blutsperre lösen. Das würde irre wehtun, aber vielleicht blieb Marie-Sophie dadurch wach. Vorher musste sie wissen, was für eine Verletzung ihr zugefügt worden war. Sie hatten zwar vereinbart, dass sie Marie für eine Zeit lang verstecken würde, doch wer hatte sie so verletzt? Vorsichtig löste sie die Binde und zuckte zusammen. Der kleine Finger fehlte. Er war über der Hand einfach weg, die letzten zwei Glieder fehlten komplett. Nur ein Stumpf war zu sehen. Sie wunderte sich, dass ihr das etwas ausmachte, obwohl sie jahrelang im Operationssaal Schlimmeres gesehen hatte. Vielleicht lag es daran, dass es Marie war? Sie waren wie Schwestern.
Anna befürchtete, dass die Blutung wieder einsetzen würde, wenn sie die Sperre löste. Schnell lief sie ins Bad, nahm zwei frische Kosmetikschwämme mit und grub in ihrem Medizinschrank nach Verbandsmaterial. Ein paar sterile Platten hatte sie noch, aber ob das ausreichen würde? Die elastische Binde war schon einmal gewaschen worden, aber es war gut, dass sie sie aufgehoben hatte. Sie beeilte sich, um wieder in den Keller zu kommen und nahm im Vorbeigehen noch das Desinfektionsspray mit.
Marie-Sophie lag da mit halb geschlossenen Augen.
Der Puls, den Anna fühlen konnte, ging nur noch schwach. So schnell es möglich war, desinfizierte sie die Wunde, legte Mullplatten darauf und wickelte die Kosmetikschwämmchen so mit ein, dass sie einen Druck auf die amputierte Stelle ausübten. Dann legte sie den Arm auf einen Lederkoffer, der zuvor an der Seite gestanden hatte und öffnete die Blutsperre.
Marie-Sophie bäumte sich auf.
„Ist schon gut, das lässt gleich nach. Ich weiß nicht, ob ich dich nicht doch ins Krankenhaus bringen sollte.
Wie viel Blut hast du denn verloren?“ Sie wollte ihre Freundin bewusst nicht auf den Finger ansprechen.
Marie-Sophie schüttelte den Kopf.
„Hierbleiben, bitte, nichts sagen! Angst…“
„Wovor hast du Angst?“ Anna behielt den Verband im Blick. Er begann, an einigen Stellen bereits wieder rot durchzuscheinen, aber dann stagnierte die Blutung. Sie konnte Marie unmöglich hier unten alleine lassen.
Marie sagte nichts. Ihr liefen Tränen die Wange hinab.
„Pass auf, ich fahre eben zur Nachtapotheke und hole noch Kochsalzlösung. Mir ist das sonst zu gefährlich, falls dein Kreislauf absackt. Ich will wenigstens, dass wir noch was hier haben. Dann komme ich und lege mich zu dir.“
Marie-Sophie stöhnte. „Praxis, Schrank im EKG. Schlüssel im Sack.“
„Denkst du, ich ginge nachts heimlich in eure Praxis?“ Marie-Sophie nickte.
„Ich gucke erst mal, welche Apotheke aufhat.“ Im Kalender sah Anna, dass sie die Wahl hatte zwischen Rolfshagen und Bückeburg. Sie hatten wenig Zeit. Die erste Infusion war bald durch, und sie würden mindestens noch eine weitere brauchen, schätzte sie.
„Gut“, sagte Anna, „ich mache das. Bis zur Apotheke ist es zu weit. Ich hoffe, mich bemerkt keiner. Es gibt doch wohl keine Alarmanlage oder so was?“ Das schwache Schütteln von Maries Kopf verneinte die Frage.
„Dann fahre ich eben los. Du ruhst dich aus und keine Sperenzchen bitte! Lass den Arm oben auf dem Koffer liegen. Ich bin gleich wieder da.“ Mehr als ein müdes Nicken ließ Marie-Sophies Zustand nicht zu.
Anna fuhr in Richtung Bückeburg. Sie hätte gerne etwas mehr aufs Gaspedal getreten, aber wenn sie jetzt angehalten und damit aufgehalten würde, wäre Marie-Sophie in größerer Gefahr.
Sie parkte nicht direkt auf dem Platz hinter der Praxis von Dr. Wiebking, sondern unten auf der Parkpalette, wo die Schüsse gefallen waren. Ein bisschen mulmig war ihr schon in der Dunkelheit, aber so sah sie immerhin niemand – wenigstens dachte sie das und zog die Latexhandschuhe an.
Der Schlüssel für die untere Tür war ein anderer als der für oben. Da Anna wenig sehen konnte, probierte sie die alle nach und nach aus. Es war der vorletzte, der passte. Leise drückte sie sich durch den Spalt und zog die Schuhe aus. Nur auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinauf. Hier auf den Absatz vor der ersten Praxistür fiel ein wenig Licht. Schon beim zweiten Versuch hatte sie Glück und die Tür schnappte auf. Anna hielt sie fest, damit sie nicht zu stark ins Schloss fiel, als sie sich auf dem kleinen Flur befand. Nun noch einmal derselbe Schlüssel und schon stand sie in der Praxis.
Ins EKG hatte Marie-Sophie gesagt, hinten links am Ende des Flurs. Das Licht fiel von draußen auch hier
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