Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Spiegeleier. Spiegeleier finde ich widerlich. Warum soll ich denn dein Frühstück essen?» – «Weil ich’s nicht essen kann», kreischt sie. «In so einer Atmosphäre kann ich überhaupt nichts essen. Iß du mein Frühstück. Iß es, und guten Appetit, aber halt endlich den Mund und laß mich in Ruhe.» Sie schiebt den Teller von sich und vergräbt das Gesicht in den Händen. Sie nimmt den Teller und schmeißt, fürchterlich schluchzend, die Spiegeleier in den Müll. Sie geht nach oben. Die Kinder, die von dem katastrophalen Dialog der Heroen wach geworden sind, fragen sich, warum dieser schöne Tag, den der Herr geschaffen hat, denn eigentlich so katastrophal sein muß.
Cheevers Tagebuch ist aber nicht nur die Chronik einer zerrütteten Ehe. Als Seelenspiegel und Beichte ist es von einer Unerbittlichkeit, die an Dostojewski gemahnt. Ganz nebenbei ist es auch ein an Edward Hopper erinnerndes Panorama der Amerikanischen Provinz.
Die Mädchen von Skidmore, manche von ihnen sind schön. Es schwimmt einem der Kopf. Achte mal auf die paar Zentimeter Schenkel, die du siehst, wenn sie ihre Fahrräder besteigen; achte mal darauf, wie sich der Fahrradsattel in ihren Hintern drückt. Manche, längst nicht so schön, haben Sinn für Humor und kommen damit durch. Manche haben überhaupt nichts. Es ist heiß, und wie in allen kleinen Orten klagen die Leute bitterlicher, als sie es in einem größeren Ort täten. Die breiten Veranden sind alle noch offen, mit ihren Strohmatten, Korbmöbeln, Tischen mit Vasen voller Blumen, Ausgaben des
Reader’s Digest
und, um vier, einem Krug leckerer Limonade. «Das ist unser Freiluft-Wohnzimmer», sagt Mrs. L. Nachts brennt dort eine Bridge-Lampe. Beim Durchqueren des Parks, wo ich einmal eine Frau habe Ringelblumen klauen sehen, denke ich mit plötzlicher Liebe an meinen Sohn Federico, beschämt denke ich an die Auseinandersetzungen, die er miterlebt hat. Wie kann er denn in einem Haus, in dem es so vielBitterkeit und Kälte gibt, zu einem aufrechten und tapferen Mann heranwachsen, wie er einer sein muß? Es tut mir leid, es tut mir von Herzen leid, mein Sohn. Ich liebe dich und werde versuchen, an deiner Seite zu bleiben. Es kommen Mädchen mit überschatteten Wangen vorbei, mit runden Wangen, mit gar keinen Wangen. Es bellen keine Hunde. Ist da eine Leinenordnung verfügt worden? […] Mich plagt irgendein Kreislaufleiden, ein Whiskeydurst und das bittere Rätsel meiner Ehe. Alle drei gehen Hand in Hand.
John Cheever erlag 1982 einem Krebsleiden. In seinen letzten Wochen hatte er noch mit Dankbarkeit gesehen, daß sein Sohn dem väterlichen Tagebuch offenbar großes Gewicht beimaß. Auch in diesem Fall dürfte das Tagebuch mehr noch als sein fiktionales Werk dafür sorgen, daß Cheevers Name nicht aus dem Kanon herausfallen wird.
Gespenst mit verzerrtem Mund
Wer also schreibt nun Tagebuch? Auch wenn die wenigsten davon im Druck erschienen, muß es ungezählte Tagebücher von Frauen gegeben haben, die darin ihr eigentliches Ausdrucksmedium fanden. Selbst ohne den
Room ofOne’s Own,
den Virginia Woolf für Frauen gefordert hatte, blieb ihnen dieses Mittel, sich auszudrücken, nicht verwehrt. Mochte ihnen der Zugang zu Bibliotheken und Universitäten verschlossen sein, das Tagebuch stand ihnen immer offen.
Frauen also, wenn auch unpubliziert. Kann man es statistisch noch weiter aufschlüsseln? Zumindest versuchsweise läßt sich die Verteilung nach verschiedenen Merkmalen ordnen. Wer katholisch geprägt ist, hat offenbar geringere Chancen, zum Tagebuchschreiber zu werden. Bei unklarer sexueller Orientierung steigen diese Chancen möglicherweise leicht; Problemdruck hilft immer. Bei Schriftstellern schießen sie rapide in die Höhe.
Wie August Graf von Platen, Thomas Mann, André Gide oder John Cheever erfüllte die 1882 als Tochter des eminenten Historikers Sir Leslie Stephen geborene Virginia Woolf alle drei Anforderungen. Sie wäre ein statistisches Monstrum, hätte sie nicht Tagebuch geführt. Daß ihre Tagebücher zu den einsamen Gipfelwerken der diaristischen Literatur zählen, war freilich nicht vorherzusehen. Auch dies ist ein viele tausend Seiten umfassendes Lebenswerk; auch dies ein Magnetberg, in dessen Nähe man sich nicht begeben kann, ohne Gefahr zu laufen, lange Zeit an ihm klebenzubleiben.
Die Muse des anti-viktorianisch gestimmten Bloomsbury-Kreises, in dem auch Churchill und der ÖkonomJohn Maynard Keynes verkehrten – diese Virginia Woolf, die später zur
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