Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
klingelte das Telefon […]. DDR-Sender berichteten nichts, verlasen nur immer wieder die TASS-Erklärung und den SED-Aufruf an die Bürger – verlogenes Geschwätz von Freundschaft und Bruderhand und Liebe zum tschechischen Volk – während in Prag und Pilsen und allen Städten der CSSR die Panzer rollen. Wieder mal deutsche Uniformen in Prag. Dubcek und die führenden Leute sind verhaftet oder verschleppt, wer weiß, man erfährt nichts über ihr Schicksal. Und welche Hoffnungen haben wir auf das «Modell» CSSR gesetzt! Unfaßbar, daß immer noch, immer wieder mit diesen Methodendes Stalinismus gearbeitet wird. Angeblich gibt es in der DDR eine «Flut von Zustimmungserklärungen». Wir sind so erbittert – kein Vertrauen mehr (falls wir jemals diese Sorte Vertrauen hatten[)]
Auf die politische Katastrophe folgt die private. Drei Wochen nach dem Einmarsch der Truppen in der Tschechoslowakei hätte jener IM lesen können:
Heute habe ich von Dr. Marquardt erfahren, daß ich Krebs habe. Die rechte Brust muß abgenommen werden. Es war ein furchtbarer Schock. […] Nun habe ich den ganzen Tag gearbeitet – das beruhigt. Tränen wird’s bestimmt noch geben, aber jetzt bin ich ziemlich gefaßt. Man muß eben durch.
Fünf Jahre bleiben ihr, in denen sie noch viel Liebesglück genießen wird. Das Werk, das die kleine Teufelin hinterläßt, ist schmal; ihr Tagebuch ein großes Dokument auch darüber, wie beengt und nicht nur ungemütlich es sich im Stasi-Stall leben ließ.
Mädchen mit überschatteten Wangen
Das literarisch leuchtendste Beispiel für die rückhaltlose
Confessio
ist aber nicht das Tagebuch Andy Warhols, Susan Sontags oder Brigitte Reimanns, sondern das eines anderen Amerikaners. Er war Alkoholiker und unglücklich verheiratet, und er liebte wie Warhol Männer – nur tat er es insgeheim. Stoff genug für Beichte, wenn man religiös geprägt war. Der 1912 in Massachusetts geborene Erzähler und Romancier John Cheever hat ein Tagebuch hinterlassen, das zu den großartigsten und erschütterndsten Zeugnissen des Genres zählt. Man hüte sich, den 600 Seiten dicken Band aufzuschlagen, wenn man später noch etwas anderes vorhat; man liest sich unweigerlich fest. Charakteristisch für Cheever ist, daß er vom Ich übergangslos zum Er gleitet und das eigene Elend in der Fiktionalisierung abfedert.
Ich stehe um halb sieben auf, um Frühstück zu machen – gutgelaunt, wie ich meine, doch während ich mich rasiere, schlägt sozusagen auch Mary die Stunde; sie macht ein böses Gesicht, hustet, gibt kleine Schmerzenslaute von sich, und ich sage etwas Gemeines: «Kann ich dir irgendwas Gutes tun,außer tot umzufallen?» Mir wird kein Frühstück angeboten, also frühstücke ich nicht – aber daß wir, zu dieser Lebens- und Tageszeit, die bitteren und häßlichen Auseinandersetzungen unserer Eltern wiederholen, wütend wie zwei gebeugte, zahnlose Gladiatoren den Toaster und die Saftpresse umkreisen und einander mit Gift, Galle, Abscheu und gereizten Worten überhäufen! «Kann ich mir vielleicht eine Scheibe Toast machen?» – «Hättest du etwas dagegen zu warten, bis ich mir meine gemacht habe?» Mom schnappt sich ihren Frühstücksteller vom Tisch und ißt an der Anrichte, mit dem Rücken zum Zimmer; Tränen strömen ihr die Wangen herab. Dad sitzt am Tisch und fragt: «Du meine Güte, womit habe ich das denn bloß verdient?» – «Laß mich in Ruhe, laß mich einfach in Ruhe, mehr verlange ich nicht», sagt sie. «Ich will doch nichts weiter als ein gekochtes Ei», sagt er. «Ist das vielleicht zu viel verlangt» – «Dann koch dir doch dein Ei selbst, aber laß mich in Ruhe.» – «Aber wie zum Teufel soll ich mir ein Ei kochen», brüllt er, «wenn du mich nicht den Topf benutzen läßt?» – «Ich würde dich ja den Topf benutzen lassen», schreit sie, «aber du machst ihn immer so dreckig. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber alles, was du anfaßt, istdanach völlig verdreckt.» – «Ich habe den Topf gekauft», brüllt er, «die Seife, die Eier. Ich bezahle die Wasser- und Gasrechnungen, und da sitze ich in meinem eigenen Haus und darf mir kein Ei kochen. Da sitze ich und verhungere.» – «Hier», schreit sie, «iß mein Frühstück. Ich kann’s nicht mehr essen. Du hast mir den Appetit verdorben. Du hast mir den ganzen Tag verdorben.» Sie hält ihm ihren Frühstücksteller hin und läßt ihn auf den Tisch fallen. «Ich will dein Frühstück aber nicht», sagt er. «Ich mag keine
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