Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
berührt, oder nur soweit, wie es meiner Arbeit dienlich ist.
War damit nicht seine Mutter getroffen? Als deren Hauptmerkmal nennt David Rieff die Gier, die Lebensgier – fastglaubt man, ihm eine gewisse Befriedigung darüber an der Nasenspitze abzulesen, daß sie, die ewige Gewinnerin, die immer alles besser weiß, am Ende auch einmal einen Kampf verliert.
Brigitte Reimann, die zähe, notfalls brutale Person, im gleichen Jahr wie Susan Sontag geboren, 1973 unterlegen im gleichen Kampf – sie sei «so gierig nach Leben», schreibt sie im Tagebuch, sie wolle heraus. Die Literatur ist ihr einziger Ballon, der sie über die Mauern und Grenzanlagen befördern kann. Nicht nur, wenn sie über den
Doktor Faustus
Tränen weint, hätte die frühe Pilgerin nach Pacific Palisades sich in ihr wiedererkannt. Brigitte Reimann und Susan Sontag sind sich in vielem überraschend ähnlich: in ihrer Sinnlichkeit und ihrem Hunger nach Literatur, ihrem Scharfsinn, ihrer Furchtlosigkeit und ihrem Amazonentum. Brigitte Reimann, schön und von dunklem Typ wie Susan, betrachtet oder studiert alle Menschen als potentielle Romanfiguren. Manchmal, wenn sie schreibt, kommt es ihr vor, «als schriebe ich nach Diktat». Auch sie, die seit ihrer Kinderlähmung hinkt, kennt die Liebe als «wüste Glut», wenn sie auch Männern und nicht Frauen galt. Mit ihrem späteren Ehemann Jon, einem von insgesamt vieren – von dem das keusch edierte Tagebuch nur verrät, daß sein Nachname mit K beginnt –, mit Jon K […] erlebt die Reimann eine Lust,
wie ich sie bisher nur aus Romanen kannte, die mich zerreißt und auflöst und mit ihm verschmilzt, als seien wir ein Fleisch und ein Schoß.
Früher, schreibt sie, hätte man eine Frau, die einen Mann in solche Abhängigkeit brachte, verbrannt. Dabei spürt sie die Abgründe dieser Hörigkeit und wittert kannibalische Wünsche hinter einem Biß. Manchmal hat sie «teuflische Lust, alles zu zerstören». Und sie wundert sich über ihren Jon: Er habe Angst vor ihr, «seit ich mit dem Messer auf ihn losgegangen bin. Merkwürdig.» –
Äußerst
merkwürdig.
In einem ist Brigitte Reimann sogar noch radikaler als Susan Sontag: Sie gibt sich selbst an allem die Schuld und läßt kein gutes Haar an sich. Sie spricht von ihrer bösen, kranken Seele, sie nennt sich eine Giftnatter und ein egoistisches Tier, und ihren nächsten Mann – «J.», wie uns der Editor anvertraut – will sie nur aus Trotz zurück, «wie ein Kind, das sich genau auf das Spielzeug versteift, das man ihm weggenommen hat»; ferner aus Rachsucht, «um ihn zu erniedrigen und zu beleidigen, sobald ich wieder Macht über ihn hätte»:
Abscheulich, ja, aber das sage ich nur so hin: in Wahrheit finde ich es ganz natürlich, nicht sehr moralisch, aber natürlich.
Bestechende, sympathische Ehrlichkeit! Wie Susan Sontag hat Reimann Mut auch zur bitteren Wahrheit und keine Angst vor Autoritäten. Ihre Hoffnungen auf das Neue Leben unter der SED zerfallen bald. Falls sie Hebbel kannte, hätte sie bei der Communismus-Passage wohl am Ende genickt. Es hat etwas unfreiwillig Allegorisches, wenn sie einen Stall-Besuch beschreibt:
Wir fuhren erst im Dunkeln wieder ab, weil Uwe mir noch die Pferdeställe zeigen mußte. In der einen Box lag ein Wallach im Sterben, und ich bildete mir ein, die anderen Tiere müßten es merken. Aber sicher ist es immer so unruhig in einem Stall. Ich hatte Angst, mir war unheimlich zwischen all den großen warmen Tieren, die mit den Schnauzen im Stroh raschelten, mit den Hufen auf den Boden klopften, mit ihren Ketten rasselten, und dazu der schwere, warme Geruch – und ich mußte mir immerzu vorstellen, wie es ist, wenn in einem solchen Stall Feuer ausbricht und die Pferde verrückt werden.
Eingepfercht mit siebzehn Millionen anderen – nicht viel anders konnte sie sich gefühlt haben. Welche Illusionen blieben ihr noch? 1965 schreibt sie:
Wir haben uns früher mal Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versprochen. Schmonzes. Man verdient Geld, je mehr desto besser, und sieht, daß man ein angenehmes Leben hat und mit dem Rücken an die Wand kommt.
Seit 1961 wird die erfolgreiche, vier Jahre später mit dem Heinrich-Mann-Preis bedachte Jungautorin von der Stasi beobachtet. Auch ihr Telephon wird abgehört. Nur ihr Tagebuch bleibt ungefleddert. Ein saftiges Fressen, was ein IM dort unterm 21. August 1968 gefunden hätte:
Truppen der SU und von 5 Pakt-Staaten haben die CSSR besetzt. Ein Schock. Den ganzen Vormittag
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