Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
einmal die folgende Beschreibung einer Norwegen-Reise an – wer den Verfasser oder die Verfasserin errät, bekommt ein Frei-Abo der Svolvaerer Symphoniker.
Svolvaer. Die Straßen sind leer und hinter den Fenstern sind die Papierrouleaux heruntergezogen. Schlafen die Menschen? Es ist nach Mitternacht; aus einer Wohnung kommt das klappernde Geräusch einer Mahlzeit, aus einer andern Grammophonmusik. Jedes laute Wort, das über die Straßen hallt, macht diese Nacht in einen Tag umschlagen, der nicht im Kalender steht. Du bist unbefugt in die Magazine der Zeit gedrungen, und blickst auf Stapel unbenutzter Tage, die sich die Erde vor Jahrtausenden auf dies Eis legte. Der Mensch verbraucht in vierundzwanzig Stunden seinen Tag; diese den ihren nur alle Halbjahre. Darum blieben die Dinge so unvernutzt. Weder Zeit noch Hände haben die Blumen in den windstillen Gärten und die Boote im glatten Wasser berührt.
Errät man, wer das schrieb? Er oder sie schrieb auch im Tagebuch über die Traurigkeit des Silvesterabends:
Es ist, als wenn der Mensch von seinem gesegneten Tische die Neige der Zeit, um seinen Becher auszuschwenken, in Natur vergießt, die nun mit Zeit besprenkelt verraten und hilflos dasteht.
Nein, das ist nicht die Dichterin Else Lasker-Schüler. Es ist aus dem Reisetagebuch Walter Benjamins. Dieser – trotz Aurakitsch – bildmächtigste und ungewöhnlichste deutsch-jüdische Essayist und Kritiker, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Portbou das Leben nahm, war schlechterdings nicht in der Lage, auch nur für eine Sekunde unter sein Niveau zu gehen. Ob Benjamin über das Verstecken von Ostereiern oder das Zusammenfalten von Strümpfen schrieb, die Prosa war immer auf derselben Höhe. Wahrscheinlich waren noch seine Einkaufszettel literarische Pretiosen. Darum gibt es bei ihm auch keinen Unterschied zwischen Tagebucheintragungen und Notizen für nachmals berühmte Essays. Benjamin ist überall derselbe, in welcher Gattung er sich auch gerade bewegt. Darin gleicht er der anderen großen Ausnahme der deutschen Literatur. Doch bevor wir uns diesem Autor zuwenden wollen, dem Benjamin einen großen Essay gewidmet hat, werfen wir noch einen Blickin seine Reisetagebücher. Benjamin zeigt darin zwei, drei Züge, die man sonst nicht von ihm kennt.
1932 läßt er sich auf Ibiza über eine Kunst unterrichten, die in seinem Repertoire bislang fehlte. Es handelt sich um die Kunst des Eidechsenfangs.
Es gibt viele Arten Eidechsen zu fangen: sie scheinen aber alle auf der großen Neugier der Tiere zu beruhen. Wer weiß, welche biologische Ursache diese Neugierde haben mag: die des Nahrungstriebs jedenfalls kaum. Denn einerseits bleiben sie ohne weiteres drei, vier Wochen, ohne etwas zu fressen (weswegen sie sich so leicht verschicken lassen), andererseits werden sie nicht müde, auch das Ungenießbarste, etwa eine Hand, zu beäugen, wenn sie ihnen merkwürdig ist. Mit dieser Neugier rechnet man, wenn man Fallen stellt. Das einfachste ist eine tiefe, offene Konservenbüchse mit einem stark aromatischen Köder – Käse, Fisch, Wurst – auf dem Grunde in den Boden zu graben; nach einigen Tagen findet man in ihr eine Anzahl der Tiere, die an den glatten Wänden nicht wieder heraufklettern konnten. Andere, mißtrauischere, muß man in haardünnen Schlingen fangen, die mit irgendeinem aromatischen Stoffe bestrichen sind, damit das Tier sie beschnuppert. Die sonderbarste Fangart abersoll im Altertume geübt worden sein. In eine Schlinge nämlich habe man eine große Speichelblase hineinfallen lassen und [nun] diese nun als einen Spiegel gleichsam dem Tiere entgegengehalten. Im Augenblick, da das Tier in die Höhlung vorstieß, zog der Fänger die Schlinge zu.
Benjamin auf subtilen Jagden. Ein anderer Charakterzug, etwas Hilfloses, Devotes, tritt in seiner Begegnung mit Bertolt Brecht hervor. Es ist seine schlechte Menschenkenntnis. Wie kann er nur auf diesen aasigen Charakter hereinfallen? Ungerührt, und von Benjamin mit keinem Widerwort bedacht, entwickelt der größte deutsche Lyriker seines Jahrhunderts im Mai 1931 an der französischen Riviera einen «Fünftageplan», den er als Mitglied eines Berliner Exekutivkomitees ausarbeiten würde. Diesem Plan zufolge wären in dieser Frist «wenigstens 200.000 Berliner zu beseitigen».
Sei es auch nur, weil man damit «Leute hineinzieht». «Wenn das durchgeführt ist, so weiß ich, da sind mindestens 50.000 Proletarier, als Ausführende,
Weitere Kostenlose Bücher