Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Katharina von Klettenberg, eine Freundin von Goethes Mutter. Ab 1772 geriet der junge Johann Wolfgang für eine Weile unter ihren Einfluß, wovon dassechste Buch von
Wilhelm Meisters Lehrjahren
Zeugnis gibt. Es trägt den Titel
Die Bekenntnisse einer schönen Seele,
und der Name war Programm. Schöne, gründlich ausgekehrte Seelen, darum ging es im Pietismus Herrnhuterscher Prägung, den die Klettenberg vertrat. Was diesen Pietismus auszeichnete, war die fast hypochondrische Innenschau, das sorgenvolle Abtasten jeder einzelnen Herzfaser, das Hin- und Herwenden aller Seelenkrümel, unter denen sich womöglich ein sündiger befand. Diese Geisteshaltung, dieses religiöse Temperament sind dem Tagebuchschreiben äußerst günstig – wir werden es auch bei den modernen Autoren feststellen. Goethe freilich löste sich bald von den Schönen Seelen und der Unsichtbaren Kirche, die sie errichtet haben wollten. In seinen Memoiren
Dichtung und Wahrheit
bedenkt er die «Stillen im Lande», wie sie sich nannten, nur noch mit sanftem Spott. Er war weitergewandert und hatte sich von den Seelenzerkrümlern entfernt. Die Nachfolger der Pietisten sind heute übrigens die Psychoanalytiker.
Das Tagebuch, das Goethe führte, ist denn auch der sprechende Beleg für seinen Anti-Pietismus. Es ist kein übliches Tagebuch. Keine Spur von Innenschau, von Beschwerdefreude, von Schmollwinkelei oder Sündengram. Nur dem jungen Goethe, erst seit kurzem Berater des Herzogs in Weimar und mit Pflichten überhäuft, entfährt noch ab und zu ein Seufzer. Als am 5. Juli 1779 in Apolda überNacht ein großes Feuer ausbricht, muß er am nächsten Morgen den Brand inspizieren und wird «den ganzen Tag gebraten und gesotten».
Die Augen brennen mich von der Glut und dem Rauch und die Fußsohlen schmerzen mich.
Das Elend wird mir nach und nach so prosaisch wie ein Kaminfeuer. Aber ich lasse doch nicht ab von meinen Gedancken und ringe mit dem unerkannten Engel sollt ich mir die Hüfte ausrenken. Es weiß kein Mensch was ich thue und mit wieviel Feinden ich kämpfe um das wenige hervorzubringen. Bey meinem Streben und Streiten und Bemühen bitt ich euch nicht zu lachen, zuschauende Götter. Allenfalls lächeln mögt ihr, und mir beystehen.
Beigestanden sind sie ihm dann, und sein späteres Tagebuch verzichtet auf weitere Klagen und Fürbitten. Es sind eher Notiz- als Tagebücher, von größter Nüchternheit, dürre Terminkalender, in denen die Verrichtungen des Alltags festgehalten werden und das gemeinsame Mittagessen mit der Frau als «heute zu Tisch mit der Geheimrätin» firmiert.
Das klingt nun allerdings zeremoniöser, als es gemeint war. Der Grund für diese überformelle Benennung des Bettschatzes, wie er seine Frau Christiane Vulpius sonst gerne nannte, war ein einfacher: Goethe hat sein Tagebuchspäter meistens diktiert. Der Schreiber sollte nicht Zeuge von Intimitäten werden, darum hieß der Sohn August irgendwann einfach «Kammerrat Goethe».
Das Lektürevergnügen der Nachwelt ist entsprechend begrenzt. Vergnüglicher blättert es sich da in den Tagebüchern der Goethe-Feinde. Bei dem frühverstorbenen schwäbischen Schriftsteller Wilhelm Waiblinger, einem Freund Eduard Mörikes und Hölderlins, findet sich etwa der knappe Vorsatz: «Man sollte Goethen aus der Welt schaffen.» Und Waiblinger erklärt, warum er sich nicht selbst an die Aufgabe macht: «Wenn ich nicht zu eigenliebig wäre, und die Überzeugung mich nicht festhielte, ich könnte einmal etwas leisten, so würd ichs thun. Es wäre dann die That einer großartigen Verzweiflung.»
Der Auslöser dieser Verzweiflung war ein untypischer Vertreter des Tagebuchs. Als Dokumente der Selbsterkundung viel typischer sind die Tagebücher der späteren Generation, vor allem die Platens und Hebbels. Aber ein besonderes Tagebuch führte auch eine jüngere Zeitgenossin Goethes, die dem Alten viel liberaler gegenüberstand.
Leben wir nur noch ein paar Kataströphchen weiter
Dabei hätte gerade sie Grund gehabt für Ressentiment, wenn sie den Anfang von
Dichtung und Wahrheit
mit ihrem eigenen Leben verglich. Goethe weist zu Beginn seiner Lebenserzählung nicht ohne Feierlichkeit auf die glückliche Konstellation bei seiner Geburtsstunde hin:
die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines
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