Heute schon geträumt
in den Raum und sehe mich entsetzt um. Stellen Sie sich vor, Sie räumen sämtliche Schubladen aus und kippen alles auf den Fußboden. Dann öffnen Sie den Kleiderschrank, reißen alle Klamotten von den Bügeln und verteilen auch sie flächendeckend. Darauf geben Sie noch ein paar Schuhe. Einen Mantel, ein paar feuchte Handtücher. Darf ich vorstellen: mein Zimmer.
»Mach’s dir bequem.« Grinsend tritt sich Lottie die Schuhe von den Füßen und lässt sich im Schneidersitz auf ihrem Bett mit der indischen Tagesdecke nieder.
Ich sehe mich nach einer Sitzgelegenheit um. Das Zimmer ist so winzig, dass ich mich kaum um die eigene Achse drehen kann. Am Fenster stehen ein kleiner Tisch und ein Plastikklappstuhl, auf dessen Kante ich mich quetsche. Auf dem Tisch türmen sich Bücher, den Großteil jedoch nimmt ein alter IBM-Computer ein, neben dem ein Stapel Papier liegt.
»Ich schreibe an einem Roman«, erklärt sie, als sie meinen Blick sieht.
»Oh, das habe ich ja ganz vergessen«, murmle ich, ehe ich mich zusammenreiße. Zum Glück hat Lottie nichts mitbekommen, sondern schlabbert ihre Nudeln.
»Ich bin noch nicht fertig, aber das wird schon noch«, erklärt sie im Brustton der Überzeugung. »Im Moment arbeite ich in der Redaktion einer Zeitschrift für Kreuzworträtsel, aber eigentlich will ich Schriftstellerin werden. Seit ich klein bin, ist das mein Traum. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.« Sie lächelt und schiebt sich noch einen Löffel voll Nudeln in den Mund. »Und du? Was machst du beruflich?«
»Ich … oh … ich habe meine eigene PR-Agentur«, antworte ich.
»Wow, ehrlich?« Sie sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Das ist ja Wahnsinn! Eine eigene Firma. Du musst ja megaerfolgreich sein.«
»Mega würde ich vielleicht nicht sagen«, wiegle ich bescheiden ab, aber insgeheim bin ich stolz, dass ich es so weit gebracht habe.
»Ich wette, du wohnst in einer superschicken Wohnung. Richtig? Ein superschickes Auto fährst du ja schon.«
Lächelnd erinnere ich mich an ihre bewundernden Ahs und Ohs über meine Sitzheizung, als ich sie gestern Abend nach dem Konzert nach Hause gefahren habe. »Ich mag ihn …«
»Du bist ein echter Glückspilz«, sagt sie. »Ich wünschte, ich hätte auch eines Tages mal eine schöne Wohnung und ein tolles Auto. Und ein bisschen Geld wäre auch ganz nett.«
Ich lächle.
»Und liebst du deinen Job?«, fragt sie eifrig.
»Lieben vielleicht nicht«, gebe ich beim Gedanken an die vergangene Woche zu. »Er ist ziemlich stressig -«
»Aber es ist doch wichtig, dass man seinen Beruf liebt, oder?«, unterbricht sie mich. »Mein Dad sagt immer, wenn man so viel Zeit mit der Arbeit zubringt, sollte man etwas tun, was man wirklich gern tut, mit Leidenschaft.«
Unsicher mustere ich sie. Stimmt, das sagt Dad tatsächlich immer. Ehrlich gesagt, konnte ich nie wirkliche Leidenschaft für die PR entwickeln, andererseits - wer kann schon von sich behaupten, er übe seinen Job mit Leidenschaft aus?
»Stimmt.« Ich nicke. »Aber das ist auch ein bisschen idealistisch. Manchmal muss man Kompromisse eingehen und sich für eine Karriere entscheiden, die einem die Möglichkeit gibt, die Rechnungen zu bezahlen und finanzielle Sicherheit bietet«, gebe ich zurück. »Und selbst wenn man seinen Job nicht mit Leidenschaft ausübt, kann er trotzdem erfüllend und anspruchsvoll sein.« Erfreut bemerke ich, dass mein jüngeres Ich wie gebannt an meinen Lippen hängt. Da. Genau das ist der Vorteil am Alter - man hat die Erfahrung, den Einblick und die Reife, zu wissen, was wichtig ist.
»Igitt, nein danke.« Lottie verzieht das Gesicht. »Erfüllend und anspruchsvoll«, wiederholt sie mit angewiderter Miene. »Das klingt nicht, als würde es Spaß machen.«
»Tja, im Leben geht es nicht immer darum, Spaß zu haben«, gebe ich leicht gereizt zurück.
»Worum denn sonst?«, fragt sie.
Ihre Frage haut mich um. Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber mir fällt nichts ein. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Denn in Wahrheit hat sie Recht. Ja, worum geht es eigentlich?
Die laut ins Schloss fallende Haustür rettet mich.
»Ach, verdammt, das ist bestimmt einer der Jungs«, stöhnt sie. »Moment, ich gehe nur kurz ins Bad, bevor sie es tun.«
Sie springt auf und verschwindet, während mir wieder in Erinnerung kommt, wie es ist, mit sechs anderen Leuten Bad und Toilette zu teilen. Wie man morgens wartet, bis man unter die Dusche kann, nur um dann
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