Heute Und in Ewigkeit
sein als dein Job?«
Ich klammerte mich an der Ecke des Kaminsimses fest. »Okay, ich habe den Termin vergessen. Aber du brauchst nicht gleich so zu tun, als hätte ich Cassandra über einem Abgrund baumeln lassen.«
»Woher willst du das wissen?«
Sei nicht böse auf mich, bitte sei nicht böse auf mich. »Sie redet davon, adoptiert zu sein. Diese Fantasie hat jedes Kind irgendwann. Und Albträume. Ich hatte eine ganze eingebildete Familie.«
»Irgendetwas mit deiner beschissenen Kindheit zu vergleichen, beruhigt mich keineswegs. Immerhin hast du nicht den Hauch eines Vorbilds dafür erlebt, was es bedeutet, eine grandiose, ach was, eine auch nur halbwegs anständige Mutter zu sein.«
»Hör auf«, sagte Merry. »Die Kinder werden dich noch hören. Wenn du gemein zu Lulu bist, wirst du Cassandra auch nicht helfen. Sag nichts, was du später bereuen wirst.«
»Danke. Ich hatte ganz vergessen, dass wir eine Expertin in Beziehungsfragen unter uns haben.«
Merry kam zu mir und legte mir einen Arm über den Rücken. »Setz dich, Lulu.«
Ich ließ mich von ihr zum Sofa führen, wo ich niedersank, ein blassgelbes Kissen vor meinen Bauch zog und es mit beiden Händen knetete. »Ich habe es einfach vergessen, Drew«, sagte ich. »Ich wollte nicht, dass du dich allein darum kümmern musst.«
»Ich weiß, ich weiß.« Er spielte an seiner Uhr herum. »Trotzdem. Wie konntest du einer Patientin wegen deine Tochter ausblenden?«
Ich fragte mich dasselbe. Waren Kinder nicht das Wichtigste im Leben einer Mutter? Sollten sie nicht den allermeisten Platz in ihrem Kopf belegen? Gaben Kinder einem nicht ein solches Bewusstsein für andere Menschen, dass jeder in gewisser Weise zum eigenen Kind wurde? Hätte Hitler Hitler sein können, wenn er Vater gewesen wäre?
Ein dämliches Argument. Mein Vater war ein Vater.
»Die Sache ist mir über den Kopf gewachsen«, erklärte ich.
»Deine Tochter braucht dich. Es geht hier nicht um ein paar kindliche Adoptionsfantasien.« Er reichte mir einen großen Umschlag, der auf dem Couchtisch gelegen hatte. »Cassandras Familienbilder.«
Ich betrachtete die Bilder auf rauem Zeichenpapier. Cassandra malte uns alle, Merry eingeschlossen, immer in die untere rechte Ecke des Blattes. Alle waren unterstrichen. Ein wackeliger Halbkreis umgab uns. Geisterhafte Männer und Frauen, überlebensgroß gezeichnet, schwebten über unserer Familie.
»Möchtest du hören, wie die Schulpsychologin das interpretiert?«
»Sie haben unsere Tochter zu einer Psychologin geschickt?«
Drew wischte meine Frage mit einer Handbewegung beiseite. »Sie ist die Vertrauenslehrerin. Hör doch zu. Kinder, die ihre Familien als unsicher wahrnehmen, unterstreichen die Familienfiguren.«
»Meinst du damit, dass Cassandra unsicher ist oder dass sie uns für unsicher hält?« Ich wollte das nicht hören.
»Das ganze Familiensystem«, sagte Merry. »Sie hält die ganze Familie für nicht sicher.«
»Bist du jetzt etwa auch Psychologin?« Ich zog rhythmisch die Zehen an und versuchte, meine Zunge in Zaum zu halten.
»Die Vertrauenslehrerin hat keine Ahnung von unserer Familie, von unseren Eltern«, entgegnete Merry. »Trotzdem hat sie das gesagt.«
»Jetzt geht es also um unsere Eltern?«
»Lass Drew doch einfach ausreden, ehe du in deine Welt des Leugnens abtauchst.«
Ich schloss den Mund. Säure brannte in meiner Brust.
»Siehst du die schwebenden Figuren, wie in Luftballons?«, fuhr Drew fort. »Die Vertrauenslehrerin meinte, das könnten Geheimnisse sein. Sie hat gefragt, ob wir Probleme hätten, ob Cassandra vielleicht befürchtet, wir könnten uns scheiden lassen. Sie hat sogar angedeutet, ich hätte eine Affäre, Herrgott noch mal.«
Ich starrte das Bild an und versuchte, in Cassandras wässrigen Kreisen Luftballons zu erkennen. »Okay«, sagte ich. »Verstehe. Aber sind diese Bilder denn wirklich so schlimm?«
Anscheinend konnte Merry sich nicht mehr beherrschen. »Ihre Lehrerin empfiehlt, Cassandra zu einer richtigen Psychologin zu schicken. In Therapie. Hörst du mir zu? Bist du blind, taub und stumm?«
»Jetzt hör du mal zu. Du führst dich auf, als hätte die Lehrerin behauptet, Cassandra müsse in eine Irrenanstalt gesperrt werden.« Wie konnten sie es wagen? Wie konnte diese Lehrerin es wagen, meine Tochter zu einem gestörten, gefährdeten Kind zu erklären? »Ich verstehe auch ein bisschen was von Psychologie.«
»Du hast ein Praktikum in der Psychiatrie gemacht, wie lange, einen Monat?«, warf
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