Heute Und in Ewigkeit
ihrer Schritte mich verärgern.
Ich wischte mir die Tränen ab und klopfte neben mir aufs Bett. »Ich bin nicht böse auf dich, Schätzchen.«
Das Bett bewegte sich kaum unter ihrem Gewicht, als sie sich darauf legte, sich in meine Arme schmiegte und ihren langen, dünnen Körper so klein wie möglich zusammenfaltete, damit ich sie ganz umschlungen halten konnte. »Ich stecke in Schwierigkeiten, oder?« Sie presste die Lippen zusammen.
»Du steckst nicht in Schwierigkeiten. Du hast Schwierigkeiten oder vielmehr Kummer. Das ist ein himmelweiter Unterschied.«
»Aber Daddy musste in die Schule und mit meiner Lehrerin sprechen.« Cassandra schob das Gesicht fest an meine Schulter, dämpfte ihre Stimme und versteckte sich dort.
»Weil sie uns sagen wollte, dass du Angst hast.«
Cassandra rührte sich nicht. Ich spürte, wie sie sich versteifte.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte ich. »Über Entführungen? Adoption?«
Ich spürte, wie sie den Kopf schüttelte.
»Du weißt, dass du nicht adoptiert bist, oder?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Als ich ein kleines Mädchen war, etwa so alt wie du, habe ich auch manchmal gedacht, ich sei vielleicht ein Adoptivkind. Ich glaube, jedes zehnjährige Mädchen auf der Welt denkt irgendwann einmal darüber nach.«
»Aber ihr musstet wirklich zu Pflegeeltern. Danach.«
»Nachdem meine Eltern«, ich zögerte, »gestorben waren. Das stimmt. Aber ich hatte schon vorher darüber nachgedacht, Schätzchen.« Ich drückte sie noch fester an mich. »Vielleicht denkst du darüber nach, weil du Angst hast, Daddy und mich zu verlieren, so wie ich meine Eltern verloren habe.«
»Und wenn es so ist?«
Ich schmiegte die Wange an ihren Kopf. »Wirst du nicht.«
»Das kannst du nicht sicher wissen.« Sie rückte von mir ab und zog die Beine an. »Du und Daddy, ihr fahrt immer zusammen Auto. Ihr könntet sterben, genau wie sie.«
Als ich sie gerade damit trösten wollte, dass sie dann ja immer noch Tante Merry haben würde, sah ich plötzlich die Szene vor mir, wie meine Schwester sie unserem Vater vorstellte. Erschöpfung senkte sich bleischwer auf mich herab und zog mich auf die Welt bewusstlosen Schlafes zu. »Keine Sorge, Schätzchen. Das kann nie zweimal in derselben Familie passieren.«
Cassandras Augen wurden schmal vor Misstrauen. »Das weißt du nicht sicher.«
»Doch, ich weiß es. Wegen der Statistik. Das ist etwas, das man in der Universität lernt. Eine Art Mathe.«
»Mathe?« Sie faltete die Hände und drückte sich die verschränkten Finger vor den Mund. »Wie kann sie einem so etwas sagen?«, fragte sie gedämpft.
»Statistik berechnet Chancen – wie wahrscheinlich es ist, dass etwas Bestimmtes eintritt. Später, wenn du älter bist, wirst du auch mathematische Formeln lernen, mit denen man ausrechnen kann, wie wahrscheinlich es ist, dass etwas passiert. Und statistisch betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass du mich verlieren wirst, infinitesimal.« Ich lächelte. »Was bedeutet, dass es nicht passieren wird.«
Ihr Körper entspannte sich und sank wieder gegen mich. »Ganz sicher?«
Ich nickte. »Ganz sicher.« Ich schob die Bettdecke zurück und wühlte mich mit den Beinen voran darunter. »Lass uns schlafen.«
Cassandra presste sich an mich, bis wir nahtlos aneinander ruhten. Allmählich entspannte sich ihr Körper, ihre Atmung verlangsamte sich, und sie schlief ein.
Ich liebte dieses Kind. Sie war mein Atem und mein Körper. Mehr als alles auf der Welt musste ich sie beschützen. Nichts sonst war wichtig.
Lautlos kullerten Tränen unter meinen geschlossenen Lidern hervor. Tränen der Angst. Angst davor, dass es mir nie wieder gelingen würde, jemanden so leicht zu trösten.
25
Merr y
m nächsten Morgen wachte ich vor dem Weckerklingeln auf und war froh, aus meinem flachen, unbefriedigenden Schlaf befreit zu sein. Ich starrte mit brennenden Augen aus dem Fenster, trank Kaffee und wartete, bis ich Drew mit Cassandra und Ruby zum Auto gehen sah. Meine Nichten hielten seine Hände, während sie durch den Nieselregen liefen.
Ruby hielt mit entschlossenen kleinen Schritten mit. Cassandra schritt mit der Krone der Ältesten einher, immer das starke, mächtige Kind. Beide bewegten sich unter Drews Schutz. Wie sich das wohl anfühlte?
Sobald Drews Wagen anfuhr, eilte ich zu Lulu hinüber. »Hast du das ernst gemeint?«, platzte ich in dem Moment heraus, als sie auf mein hektisches Klopfen hin die Tür öffnete.
»Ob ich was ernst gemeint habe?«
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