Heute Und in Ewigkeit
Drew ein. »Vor ungefähr hundert Jahren?«
»Und ihre Lehrerin hat bitte welche Qualifikation? Ein Semester am College, vor fünfhundert Jahren?«
Drew riss die Bilder vom Couchtisch und schob sie zurück in den Umschlag. »Die brauchen wir für den Termin bei der Kinderpsychologin. Ich habe schon einen ausgemacht, für nächste Woche. Soll ich ihn in deinen Palm Pilot eingeben? Würde dir das helfen, ihn nicht zu vergessen?«
Empört warf ich die Hände in die Luft. »Wie konntest du einfach einen Termin ausmachen, ohne mich diese Psychologin erst mal überprüfen zu lassen?«
Drews Miene war so hart, dass sie Holz hätte splittern lassen. »Die Schule hat sie mir empfohlen.«
»Umso mehr Grund, ihr nicht zu trauen.«
»Hörst du eigentlich, was du da redest?« Merry schlug auf ihre Sessellehne. »Cassandra hat ein Problem mit ihrer Familie. Sie glaubt, jemand wolle sie umbringen. Sie hat Angst davor, entführt zu werden. Sie fürchtet sich davor, von allen verlassen zu werden. Kommt dir irgendwas davon bekannt vor? Klingt das nach etwas, womit sich vielleicht Tochter und Mutter auseinandersetzen müssen?«
»Habe ich dich um deine Meinung gebeten?«
»Seit wann brauche ich deine Erlaubnis, um zu sprechen? Gehöre ich etwa nicht zu dieser Familie? Ist es nicht genau das, was du immer sagst – es geht nur um uns, wir haben nur uns, Merry? Wir fünf müssen zusammenhalten, Merry ?« Meine Schwester setzte sich neben mich aufs Sofa. »Wir sind aber SECHS , und du musst dich dem stellen.«
»Mich stellen? Hast du dir überlegt, wie wir den beiden einen Großvater präsentieren sollen, der ihre Großmutter ermordet hat? Glaubst du, ich hätte nicht schon tausend Mal darüber nachgedacht, seit sie auf der Welt sind? Was? Wie kommst du dazu, so herablassend zu sein? Die ach so besondere Merry, die sich ihrem Vater stellt?«
Merry blinzelte Tränen fort. Ich kämpfte gegen den instinktiven Drang an, sie zu trösten, alles wiedergutzumachen und meine Wut herunterzuschlucken.
»Cassandra reagiert möglicherweise darauf, dass wir unsere Eltern verloren haben, und zwar praktisch in genau dem Alter, in dem sie und Ruby jetzt sind«, sagte ich. »Sie identifiziert sich zu stark damit, dass wir durch einen Autounfall zu Waisen geworden sind.« Es geht ihr gut. Cassandra geht es gut. Alles in Ordnung.
Merry öffnete ungläubig den Mund. »Das ist doch gar nicht passiert.«
»Sie glaubt es aber, also ist genau das passiert. Belass es einfach dabei, ja? Es wäre mir lieber, Cassandra und Ruby machen sich Sorgen, dass Drew und ich einen Autounfall haben könnten. Sie sollen nicht wissen, dass ich mein Leben lang versuche zu vergessen, wie Mama vor meinen Augen gestorben ist.«
Was? Jetzt hast du wohl nichts mehr zu sagen?
»Was glaubst du eigentlich, was ich sehe, wenn ich abends die Augen schließe?«, fragte ich. »Dich und Daddy blutüberströmt auf Mamas Bett. Seit damals musste ich immer, mein Leben lang, für alle und alles die Verantwortung übernehmen, auch für dich.«
Merry schüttelte langsam den Kopf, als sei ich eine Fremde. »Es geht hier nicht um uns. Wir müssen uns um Cassandra kümmern.«
Ich schleuderte das Kissen, das ich an mich gedrückt hatte, auf den Boden und stand auf. Mein Arm zitterte, als ich mit ausgestrecktem Finger auf Merry zeigte. »Ich kümmere mich um meine Tochter. Ich mache hier die Regeln. Das ist meine Familie, und wenn es dir nicht passt, wie ich meine Kinder erziehe, dann ist es wohl an der Zeit, dass du gehst. Such dir selber einen Mann. Krieg deine eigenen Kinder. Hör auf, an meinem Leben zu saugen.«
Ich marschierte hinaus, ging ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Dann trat ich gegen die Kommode und ritzte mit den Fingernägeln tiefe Spuren in meinen Arm, während ich mich fragte, was ich bloß tun sollte. Schließlich ließ ich mich zu Boden sinken und legte den Kopf auf die Knie. Ich schlang die Arme um die Beine und betete um jemanden, um einen einzigen Erwachsenen irgendwo auf der Welt, den ich hätte anrufen können.
Angewidert von meiner hilflosen, schwachen Haltung, riss ich mir die Kleider herunter, ließ sie auf den Stuhl in der Ecke fallen, zog ein weiches, weites Nachthemd über und warf mich aufs Bett.
Die Tür öffnete sich knarrend. Ich wartete darauf, dass Drew zu mir kam und mir meine Tränen wegküsste.
»Mommy? Geht es dir nicht gut? Bist du böse auf mich?« Cassandra schlich auf Zehenspitzen herein, als könnte schon der Klang
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