Heute Und in Ewigkeit
Krankenwagen raste kreischend von hinten heran. Schießereien, Morde, in diesem armen Viertel passierte alles Mögliche. Ich schaltete das Radio an, aber die Nachrichten auf NPR deprimierten mich so sehr, dass ich zu einem Oldie-Sender wechselte. Chuck Berry sang »No particular place to go«.
Ich sah auf die Uhr. Ich musste sogar sehr dringend wohin. Merry drehte bestimmt schon durch. Meinetwegen kam sie am Ende noch zu spät zu ihrem Gerichtstermin. Vermutlich betrachtete sie das dann als meine Art, ihr zu sagen, dass mein Job viel wichtiger war als ihrer. Glaubte Merry wirklich, dass ich immer nur nach Möglichkeiten suchte, sie niederzumachen?
Eine Menschenmenge sammelte sich auf dem Bürgersteig und floss auf die Straße. Die Leute hatten die aufgeregten Gesichter von Menschen am Rande einer Katastrophe, irgendwie involviert, aber in Sicherheit. Fremde fragen einander dann, was passiert, und werden vorübergehend zu guten Freunden.
Ich nahm den Gang raus und öffnete die Fahrertür. Dann reckte ich den Hals und versuchte, an dem Jeep Cherokee vor mir vorbeizuschauen. Es wurde gehupt. Autofahrer, die im Stau steckten, brüllten: »Was zum Teufel soll das? Was ist hier los?«
Ich sah mich um und überlegte. Nebel lag wie ein Leichentuch auf der ohnehin schon hässlichen Straße. Rechts von mir war eine große Autowerkstatt. Verrostete Eisengitter bedeckten die Fenster eines Lebensmittelladens. Die Gaffer schienen sich nun dauerhaft einzurichten.
»Was ist los?«, rief ich ein paar Mal und versuchte, den Blick von jemandem in der Menge aufzufangen. Endlich erbarmte sich eine Frau mittleren Alters mit einem bunten Kopftuch.
»Irgendein Irrer hat Geiseln genommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Welt ist verrückt geworden.«
Die Leute sagen das immer, als hätte es erst heute angefangen, als wäre gestern noch alles eitel Sonnenschein gewesen. Ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück. Weihnachtsmusik dudelte aus dem Radio. Ich konnte so etwas nicht leiden, aber zumindest war es einer der weniger nervtötenden Songs. »Have yourself a merry little Christmas.« Pathos schien mir zu Weihnachten genau das passende Gefühl zu sein. Erspart mir nur das Fröhliche, Heilige, Selige.
Im Geiste bereitete ich schon mal das Abendessen zu: Truthahn-Hackbraten. Schnell, aber mit dem Nimbus des Selbstgekochten. Drew würde sich freuen. Wie oft bekam er zu Hause schon eine warme Mahlzeit, die er nicht selbst zubereitet hatte? Gott sei Dank hatte Drew heute Handballtraining und ein Pokerspiel, sonst hätte ich ihn inzwischen ebenfalls in den Wahnsinn getrieben.
Und hier sind die Nachrichten auf Radio Hundertdrei. Nach offiziell noch nicht bestätigten Berichten über das Geiseldrama im Gerichtsgebäude handelt es sich bei der Geisel, die in der Bewährungsdienststelle festgehalten wird, um ein Kind …
Ich stellte den Motor ab, stieg aus und rannte die Straße entlang.
»He, die schleppen Ihnen das Auto ab«, schrie die Kopftuchträgerin mir nach.
Ich ignorierte die Warnung, ignorierte alles und vergewisserte mich nur kurz, dass ich meine Handtasche über der Schulter trug. Ich hatte sie mir automatisch geschnappt. Mediziner-Ausbildung. Notfallpläne. Ich könnte meinen Arztausweis brauchen, um reinzukommen. Ärzte genießen Privilegien.
Ich stieß gegen zahlreiche Ellbogen, und die Leute beschimpften mich, während ich mir einen Weg durch die Menge bahnte.
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
»Passen Sie doch auf!«
»He, schubsen Sie mich nicht herum!«
»Meine Kinder!«, schrie ich, als ich im immer dichter werdenden Gedränge stecken blieb. »Meine Kinder sind im Gericht.«
»Wir haben alle jemanden da drin, Lady.« Eine beleibte Frau stieß mich energisch zurück.
»Meine Kinder werden dort festgehalten.« Meine Stimme wurde heiser, so laut schrie ich. Allein das Gefühl, dass meine Worte wahr sein könnten, verlieh mir die Kraft, weiter nach vorn zu drängeln. »Ich muss zu ihnen.«
Niemand rückte einen Zentimeter zur Seite.
»Platz da, verdammt noch mal!« Ich schlug auf sämtliche Schultern und Rücken, die ich erreichen konnte. »Die Polizei wartet auf mich.« Ich rammte die Faust gegen die Hindernisse, und ich brüllte: » LASST MICH DURCH !«
Endlich erbarmte sich ein großer Mann, so groß wie der liebe Gott in diesem Augenblick, und teilte für mich das Meer aus Männern und Frauen. »Lasst sie durch. Sie wird da drin gebraucht.«
Eine befehlsgewohnte Stimme wie seine bewirkte Wunder.
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