Heute Und in Ewigkeit
mein Badeanzug rote Punkte hatte. Oma hatte gelacht, als ich ihr das erzählt hatte. »Wie kannst du das noch wissen?«, hatte sie gefragt. »Da warst du doch noch ein ganz kleines Pitsele .«
Es war mir egal, dass mir niemand glaubte. Das war eine meiner liebsten Erinnerungen, und ich hatte kaum Erinnerungen an Mama, obwohl sie mir auch jeden Tag fehlte.
»Tu mir einen Gefallen, Merry«, sagte Lulu. »Stell die Fotos bei den Cohens nicht überall in deinem Zimmer auf, okay? Räum sie weg.«
Bei den Cohens zu leben, fiel mir nicht leicht. Nach fast einem Jahr wusste ich, wie ich brav sein konnte, beinahe perfekt, aber ich machte mir trotzdem ständig Sorgen, ich könnte es irgendwann vergessen. Lulu erinnerte mich immer wieder daran, dass eine einzige Minute des Vergessens eine Katastrophe bedeuten könnte.
Ich ging von der Schule nach Hause und raschelte kräftig im Oktoberlaub, das überall herumlag. Central-Park-Laub, Manhattan-Laub, viel hübscher als das aus Brooklyn.
Normalerweise ging ich den Schulweg über fünf Querstraßen zusammen mit meiner besten Freundin Katie, aber die hatte eine Erkältung und war heute nicht zum Unterricht gekommen. Allein zu gehen, war schon okay, denn das Wissen, dass ich eine Freundin hatte, leistete mir auch Gesellschaft. Außerdem musste ich über ein paar Sachen nachdenken, zum Beispiel, wie ich Daddy je wiedersehen sollte.
Ich strich mit der Hand über den brandneuen Mantel, den Mrs. Cohen mir bei Bloomingdales gekauft hatte. Da war ich mir vorgekommen wie in einem Museum, alles unter Glas und glitzernd hell beleuchtet. An dem Tag, als wir den Mantel gekauft hatten, hatte Mrs. Cohen mich immer wieder an sich gedrückt, während wir in dem Kaufhaus herumgelaufen waren und zusammen Seidenblusen berührt und goldene Uhren und Medaillons bewundert hatten.
Anne.
Mom.
Mrs. Cohen.
Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich sie nennen sollte.
An dem Abend, als Lulu und ich eingezogen waren, hatte Mrs. Cohen gesagt: »Nennt mich Anne«, und ein paar Wochen später hatte sie gesagt: »Ihr dürft Mom zu mir sagen, wenn ihr wollt«, mit so einer wünschenden Stimme. Aber als ich es ausprobierte, klang es blöd. Die richtigen Kinder der Cohens, die längst Erwachsene waren und selbst schon kleine Kinder hatten, hatten säuerlich und wütend dreingeschaut, als sie mich »Mom« sagen hörten. Vor allem aber konnte ich das nicht, weil ich glaubte, Mama wäre dann böse auf mich.
Wenn ich zu Mrs. Cohen Mom gesagt hätte, was ich manchmal schon irgendwie wollte, dann hätte ich Doktor Cohen Dad nennen müssen, doch er hatte nicht darum gebeten, außerdem hatte ich ja noch einen richtigen Vater. Deswegen nannte ich jetzt keinen von beiden irgendwie, was Unterhaltungen manchmal schwierig machte. Oma hätte gesagt, ach, wenn das schon das Schlimmste wäre, was je passiert ist. Sie hätte gesagt, ich solle nicht so viel grübeln.
Ich zog den Mantel fester um mich, gegen den Wind.
Wenn ich an meinen Vater dachte, wurde mir schwummerig. Sogar bei Katie musste ich so tun, als sei Daddy tot. Lulu hatte mir im September, ehe wir an unserer neuen Schule angefangen hatten, genaue Order gegeben.
»Ich muss dir etwas sagen«, hatte Lulu begonnen, als könnte ich einen Anfall kriegen, was ich aber überhaupt nicht mehr tat. »Wenn wir an die neue Schule kommen, darfst du nichts über unseren Vater oder das Gefängnis oder unsere Mutter oder irgendwas anderes sagen.« Das kam alles in einem einzigen, schnellen, atemlosen Satz heraus.
»Wer hat das gesagt? Sie?« Sie waren natürlich die Cohens.
»Ich sage das.« Lulu hob die Hand, als ich protestierte. »Ich werde nicht mehr das Mördermädchen sein, und du auch nicht. Verstanden?«
Ich begann zu weinen, aber leise, damit Mrs. Cohen nicht ganz aufgeregt hereinkam und wissen wollte, was los sei.
Lulu piekste mich in die Schulter. »Hör auf.«
»Aua.«
»Hör mir zu.« Sie legte die Hände auf meine Schultern. »Das ist unsere Geschichte: Unsere Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Fertig. Sie sind verunglückt. Auf dem Weg in die Catskills. Wir haben bei Mimi Rubee gewohnt, bis sie gestorben ist. Dann sind wir ins Duffy gekommen, weil wir keine anderen Verwandten hatten. Jetzt sind wir hier. Ende.«
Lulu war alles, was ich hatte. Ich gehorchte ihr, immer.
Schneller, als ich gewollt hatte, erreichte ich das große weiße Gebäude an der West 87 th Street, in dem die Wohnung der Cohens lag. Der Portier, Dominic, nickte und
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