Heute Und in Ewigkeit
ich in der Wohnung herumspaziert waren. Mrs. Cohen hatte gesagt, dies sei jetzt unser Zuhause, wir sollten nur niemals in Doktor Cohens Arbeitszimmer gehen. Es war verboten, dieses Zimmer zu betreten. Einen Monat später sah ich, wie Doktor Cohen Rachel mit hineinnahm, damit sie dort malen und mit ihren Puppen spielen konnte, während er arbeitete.
Daddy hätte mich bestimmt nicht aus seinem Arbeitszimmer verbannt. Lulu sagte, Mama hätte uns oft in ihrem Zimmer spielen lassen, dann hätten wir aus ihrem Bett einen Zirkus gemacht und einen Besenstiel unter die Bettdecke gestellt, um das große Zelt aufzubauen. Von so etwas erzählte Lulu mir nur spät in der Nacht, wenn mir von einem Albtraum so sehr der Kopf wehtat, dass ich ihn mir am liebsten aufgeschlagen hätte, damit der Schmerz aufhörte, und ich deswegen zu Lulu ins Zimmer lief.
Rachel wurde schwerer, sie nuckelte an ihrem Daumen und rutschte weiter an mir herunter. Wenn ich bei Daddy wohnen würde und er ein Arbeitszimmer hätte, würde er mir bestimmt nicht verbieten, es zu betreten.
Als ich die letzte Zeile des Buches vorgelesen hatte, sah ich, dass Rachel eingeschlafen war. Ich deckte sie mit der gemusterten Wolldecke zu, die Mrs. Cohen auf dem Sofa liegen hatte, und schlich auf Zehenspitzen in mein Zimmer.
Einen Raum ganz für mich zu haben, war mir immer noch neu. Während im Duffy alles alt und abgenutzt gewesen war, füllten jetzt neue, glänzende Dinge mein Zimmer. Seidige gelbe Seile hielten prächtige orangerote Vorhänge zurück. Regenbogenbunte Kissen lagen auf meinem Bett. Lediglich das gerahmte Poster eines winterlichen Baums, ganz kahl, mit dunklen Ästen vor einem trübseligen grauen Hintergrund, mochte ich nicht. Ich fand das Bild deprimierend, aber den Cohens gefiel es so gut, dass ich so tat, als gefiele es mir auch.
Ich entdeckte zwei neue Briefumschläge auf meinem Bett und rannte hin. Die mussten von meinem Vater sein. Niemand sonst schrieb mir Briefe. Einer war für mich und der andere bestimmt für Lulu. Meine Schwester wollte Daddys Briefe nicht öffnen, also adressierte er sie an mich. Dann war es meine Aufgabe, Lulu dazu zu bringen, sich wenigstens anzuhören, was er geschrieben hatte – eine Aufgabe, bei der ich meistens versagte.
Ich schlitzte den Umschlag auf.
Liebe Merry, ich vermisse dich ganz schrecklich. Wie eine Wand die Farbe! Wie Abbott Costello! Wie ein Baseball den Schläger! Es ist so viel traurige Zeit vergangen, seit Oma gestorben ist und ich dich und Lulu sehen durfte.
Daddys Briefe fingen immer so an: Wie sehr er mich vermisste und wie lange er mich schon nicht mehr gesehen hatte. In den Briefen von letzter Woche hatte gestanden, wie Himmel Sterne vermissen und Waschlappen die Seife.
Hier gibt es nichts Neues (haha!). Na ja, das stimmt nicht. Ich habe einen Zimmerkameraden. Das ist im Gefängnis nicht unbedingt gut. Es wird jeden Tag voller hier. Ich wusste ja, dass ich auch irgendwann dran bin. Zumindest macht dieser Kerl (Hank heißt er) mich nicht an.
Manchmal wurde mir ganz schlecht von den Sachen, die mein Vater mir erzählte.
Ich habe meine Optometrie-Ausbildung beendet. Ist das zu fassen? Ich habe hier drin tatsächlich einen neuen Beruf erlernt. Oma hätte sich sehr darüber gefreut. Jetzt mache ich Brillengläser und sitze an der Schleifmaschine. Ich erzähle dir mehr darüber, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Aber wann wird das sein? Ich habe an deine neuen Pflegeeltern geschrieben, aber ich warte immer noch auf eine Antwort. Ach, übrigens, Süße, ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht mal daran denken sollen, dich zu adoptieren. Ich habe nicht die Absicht, die einzige Familie aufzugeben, die ich noch habe.
War Daddy böse auf mich? Ich dachte daran, wie er Sachen herumwarf. Mit Türen knallte. Den Cohens wehtat. Alles spannte sich und klopfte in meiner Brust, bis das Gefühl langsam wieder wegging.
Wollten die Cohens Lulu und mich denn adoptieren? Hatte Daddy das deshalb doppelt unterstrichen? Ich durfte meinen Vater nicht danach fragen, wenn ich ihm zurückschrieb, denn falls die Cohens die Briefe lasen, würden sie vielleicht glauben, dass ich nicht adoptiert werden wollte. Oder dass ich es wollte.
Merry, sag ihnen immer wieder, dass du mich besuchen willst. Bitte sie ständig darum! Ich brauche dich sooooo sehr!
Und, wie ist es in der Schule? Ist Katie immer noch deine beste Freundin? Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen, wenn ich hier rauskomme. Mein Anwalt arbeitet an
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