Heute Und in Ewigkeit
Schritte bis zu ihnen hin und blieb eine gute Armlänge entfernt stehen. Er war so anders.
Nicht dünn, nicht fett. Kräftiger. Sein Körper wirkte hart, sogar in dem ausgebeulten Anzug. Mit seiner Brille sah er aus wie Clark Kent.
»Wie alt bist du?«, fragte ich.
»Zweiunddreißig.«
Mama wäre jetzt einunddreißig gewesen.
Er neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. Merry lehnte sich an ihn und grub den Kopf in seinen Anzug. »Und du bist dreizehn«, sagte er. »Im Juli wirst du vierzehn. Wow.«
Wow . Bei dem Wort bildete sich ein Kloß in meiner Kehle, und ich wusste nicht, warum.
Ich wand mich, während er mich beäugte.
»Du bist groß, wie mein Vater.«
Ich versuchte, mich an die Fotos auf Omas Fernseher zu erinnern.
»Dein Haar ist hübsch«, sagte er. »Die Farbe gefällt mir.«
Ich berührte mit dem dicken Handschuh mein Haar.
»I dream of Jeannie with the light brown hair«, sang er. Ich hatte vergessen, was für eine schöne Stimme unser Vater hatte. Er hatte mir oft etwas vorgesungen, als ich noch klein gewesen war. Aber nie Kinderlieder. Er möge Schmacht, keine albernen Reime, hatte er mir erklärt. »Erwarte von mir kein ›Hickory Dickory Dock‹«, hatte er gesagt. Zur Schlafenszeit sang er mir »Only the Lonely« vor. Als Merry geboren wurde, war »Pretty Woman« gerade herausgekommen, und er lief den ganzen Tag herum und sang es. Wenn ich Roy Orbison hörte, musste ich immer an meinen Vater denken. Ich schaltete das Radio aus, wenn einer von seinen Songs kam.
»Lulu hat wohl ihre Zunge verschluckt, was?«, sagte mein Vater zu Merry. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Kommt, Mädchen. Gehen wir und verabschieden uns.«
Wir gingen zusammen zum Grab, der kalte Wind brannte mir in der Nase. Mein Vater schwankte leicht, vermutlich fiel es ihm schwer, mit den Handschellen das Gleichgewicht zu halten. Wie lief man eigentlich, wenn einem die Hände vor dem Bauch gefesselt waren? Meine Finger zuckten. Ich wollte es ausprobieren.
Budgie rückte so weit wie möglich von uns ab, als könnte Daddy plötzlich den Arm heben und versuchen sie zu erstechen oder so. Ich rückte näher an meinen Vater heran, so nah, dass eine Falte meines Mantels seinen Ärmel berührte, und ich erschauerte.
Der Rabbi stimmte einen Singsang in einer Sprache an, die vermutlich Hebräisch war. Mein Vater und Onkel Irving schwankten leicht im Takt der Worte. Während ich dem fremdartigen Klang lauschte, fragte ich mich, ob es wohl erlaubt wäre, dass ich mich an meinen Vater lehnte, oder ob das gesetzlich verboten war. Nicht, dass ich das gewollt hätte.
Der Rabbi wechselte ins Englische, und ich bemühte mich, gut aufzupassen, aber in meinem Kopf rangen zu viele Gedanken miteinander.
»Mögest Du, der Du der Quell der Gnade bist, sie im Schatten Deiner Flügel bergen in alle Ewigkeit … mögen sie in Frieden ruhen, und lasset uns sagen: Amen.«
»Amen«, sagte mein Vater mit gesenktem Kopf.
Onkel Irving und Budgie murmelten »Amen«, aber so leise, dass Budgie ebenso gut hätte flüstern können das ist krank .
»Amen«, hauchte Merry.
Ich wollte es sagen. Ich wollte ein Quell der Gnade sein. Ich wollte, dass Oma in Frieden ruhte, und vielleicht half man ihr tatsächlich auf irgendeine besondere Weise, indem man Amen sagte, aber ich konnte vor meinem Vater nicht sprechen. Schließlich kratzte ich mit der rechten Hand das Wort auf den linken Arm und wiederholte jeden Buchstaben deutlich in meinem Kopf.
Der Rabbi griff nach einer Schaufel und hob damit ein kleines Häufchen kalter, krümeliger Erde auf. Er kippte die Schaufel um und ließ die Erde in Omas Grab fallen. Merry holte tief Luft, als die Erde auf den Sarg traf. Der Rabbi reichte die Schaufel an Onkel Irving weiter, der das Ritual wiederholte und die Schaufel dann seiner Tochter in die Hand drückte. Budgie nahm ein ganzes Löffelchen voll Erde auf und blieb dann damit stehen. Sie wirkte ertappt und zornig.
»Warum machen sie das?«, fragte Merry meinen Vater. Sie rieb sich mit den gestreiften Handschuhen die geröteten, nassen Wangen.
Der Rabbi legte Merry die nackte Hand auf die Schulter. »Wir tun das, um dem geliebten Menschen den Weg zu erleichtern.«
Merry schluchzte und hielt sich an Vaters Arm fest. Er konnte nichts weiter tun, als den Kopf sacht auf Merrys roten Hut zu legen. Dann nahm ich meiner stinkigen alten Cousine den Spaten ab und legte den dünnen Stiel in die gefesselten Hände meines Vaters. Seite an Seite traten
Weitere Kostenlose Bücher