Heute Und in Ewigkeit
einer neuen Berufung. Er sagt, sie hätten ein Verbrechen aus Leidenschaft anders beurteilen müssen.
Hauptsache, du vergisst nicht, wie lieb ich dich habe. Ich ver
misse dich wie Autos Reifen . Alles Lieb e Dadd y
Ich ließ das Gefängnis-Papier sinken und überlegte, wie ich es schaffen könnte, meinen Vater zu besuchen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mrs. Cohen mit ihren goldenen Armbändern und schicken Schals mit mir ins Gefängnis gehen würde.
Ich musste diesen Brief verstecken. Ich musste die Cohens dazu bringen, mich Daddy besuchen zu lassen, ehe er uns alle in Schwierigkeiten brachte. Was, wenn sie merkten, dass wir einfach zu schwierig waren, sobald man uns bei sich zu Hause hatte? Was, wenn sie uns zurückgaben, ehe Lulu achtzehn wurde?
11
Merry: November 197 7
ch hoffe, ich habe deine Schwester nicht ausgenutzt.« Mrs. Cohen stopfte noch eine Handvoll Füllung in den Truthahn, den ich festhielt. »Glaubst du, es hat ihr große Umstände gemacht, den Truthahn für mich zu kaufen?«
Lulu arbeitete nach der Schule im Supermarkt, weshalb Mrs. Cohen glaubte, dass meine Schwester eine Abkürzung zum besten Vogel kennen müsse.
»Bestimmt nicht.« Nach zwei Jahren vermied ich es immer noch, Mrs. Cohen direkt anzusprechen. Im Dezember würde ich dreizehn werden, und ich wusste immer noch nicht, wie ich das Problem lösen sollte. Mit ihr in der Küche zu arbeiten, war die reinste Folter. Ich neigte den Kopf und fing ihren Blick auf, wenn ich sie etwas fragen oder ihr antworten musste. »Alle Aushilfen im A & P versuchen den besten Truthahn für ihre Eltern zu ergattern. Das hat Lulu mir jedenfalls erzählt.«
Ich wand mich innerlich, als ich mich das Wort Eltern sagen hörte, aber ich gebrauchte es trotzdem, weil ich wusste, dass es Mrs. Cohen glücklich machte. Es war mir egal, ob ich log, jedenfalls, wenn meine Lügen anderen das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein. Deswegen mochten die Leute mich. Außerdem, glaubte Mrs. Cohen wirklich, dass Lulu sich darum scherte, welchen Truthahn sie zu Thanksgiving servierte? Nicht, dass Lulu irgendeine Bitte unserer Pflegemutter ablehnen würde, aber hinterher jammerte sie dann ewig herum, wie nervig Mrs. Cohen doch sei.
»Lulu ist so empfindlich, was die Einhaltung von Regeln angeht.« Mrs. Cohen seufzte. »Ich wollte nur sichergehen, dass der Truthahn groß genug ist. Und sie ist wirklich nicht böse auf mich?«
Mrs. Cohen fragte mich ständig über Lulu aus, als hätte ich eine magische Wanze an meiner Schwester angebracht. Ja, sicher. Ebenso gut konnte man versuchen, Fort Knox auszurauben, wie Lulu etwas Persönliches zu entlocken, wenn sie nicht gerade in der Laune war, es einem freiwillig zu erzählen. Mrs. Cohen versuchte verzweifelt, Lulu zu verstehen. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihr erzählen können, dass meiner Schwester nur eines wichtig war: sich an Colleges außerhalb von New York zu bewerben und von den Cohens fortzukommen. Neulich hatte ich Lulu gefragt, warum sie die Cohens so sehr hasste, und sie hatte direkt vor meinem Gesicht mit den Fingern geschnippt und gesagt: »Wach auf, Merry. Wir sind nur ihr Projekt. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir für sie zur Familie gehören, oder?« Dann hatte ihr Gesicht einen total verzerrten Ausdruck angenommen – es sah beinahe so aus, als würde sie gleich weinen. »Die einzige Familie, die wir haben, sind wir beide.«
Ich hätte gern Daddy erwähnt, aber dann wäre Lulu nur wütend geworden.
»Sie ist nicht böse«, versicherte ich Mrs. Cohen. »Bloß müde.«
Lulu hatte den Truthahn praktisch auf den Tisch geschmissen, als sie gestern Abend nach Hause gekommen war. Mrs. Cohen machte sich oft Sorgen, Lulu könnte zu viel arbeiten, aber Doktor Cohen blieb dabei: Solange Lulu auf der Liste der besten Schülerinnen blieb – und Herrgott noch mal, Anne, sie hat den drittbesten Notendurchschnitt an der ganzen Schule –, war er mit den vielen Stunden im Supermarkt einverstanden. Arbeit bildete den Charakter. Das würde ihr helfen, ein Stipendium zu erlangen.
Doktor Cohen gebrauchte Wörter wie erlangen statt bekommen. Über meine Noten, ob gut oder schlecht, regte er sich nie auf, obwohl ich inzwischen in der siebten Klasse war. Er überließ mich voll und ganz seiner Frau. Meistens waren Mrs. Cohen und ich allein zu Hause, nur wir beide. Lulu war kaum mehr da. Wenn sie nicht im Supermarkt arbeitete, teilte sie in einem Obdachlosenheim Essen aus oder half ehrenamtlich in einem
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