Heute Und in Ewigkeit
Krankenhaus in Harlem. Die Retterin , nannte Eleanor sie, aber das klang nicht wie ein Kompliment an Lulu. Dieses Mädchen hat einen Retterkomplex , sagte sie oft zu Mrs. Cohen, schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen.
»Würdest du schon mal die Kartoffeln schneiden?«, bat Mrs. Cohen.
Ich ließ den fertig gestopften Truthahn fallen, der inzwischen eine Tonne wog, und griff nach dem Schneidebrett. Ich wusch die Kartoffeln zweimal, wie Mrs. Cohen es mir beigebracht hatte, und schnitt sie dann in Viertel, damit wir sie kochen und stampfen konnten. Ich bemühte mich, dass alle Kartoffelstücke möglichst gleich groß wurden.
»Kommen denn alle?« Ich lächelte, um ihr zu zeigen, wie ich mich über die Aussicht freute, dass die ganze Wohnung von der Familie überrannt wurde.
Mrs. Cohen schien sich über meine Frage zu freuen. »Es werden alle da sein.«
»Soll ich die guten Gläser polieren?« Ich fühlte mich bleischwer vor Erschöpfung. Wir standen schon seit Stunden in der Küche, und so lange mit ihr eingesperrt zu sein, war sehr anstrengend für mich.
»Was würde ich nur ohne dich tun?«, fragte Mrs. Cohen.
Ich wandte ihr den Rücken zu und schnitt im Toaster eine Grimasse. Dann griff ich nach den Gläsern.
Der Truthahnbraten wirkte wie eine Werbung aus dem Ladies' Home Journal . Doktor Cohen trug die silberne Platte zum Esstisch. Der Tisch, so weit wie möglich ausgezogen und mit einem schweren weißen Tischtuch bedeckt, das die Putzfrau noch am Morgen gebügelt hatte, sah aus wie im Fernsehen. Lulu hatte die Augen verdreht, als Mrs. Cohen erklärt hatte, dass die Putzfrau nichts dagegen hätte, an einem Feiertag zu kommen, weil sie ihr das Dreifache bezahlten.
»Als ob das einen Unterschied machen würde«, hatte Lulu gebrummt. »Sie sollten ihr etwas extra geben, weil sie das ganze Jahr lang für sie geschuftet hat. Ein Tageslohn dafür, dass sie nicht arbeitet, wäre doch eine nette Geste zu Thanksgiving, nicht? Statt sie ihrer Familie wegzunehmen?«
Ich hatte zugestimmt, aber Angst gehabt, Mrs. Cohen könnte uns hören, sich schrecklich aufregen und verletzt sein. Lulu, die sich so sehr gewünscht hatte, dass die Cohens uns bei sich aufnahmen, schien sie mit jedem Jahr mehr zu hassen.
»Ehe wir den Truthahn anschneiden, wollen wir unseren Dank aussprechen.« Doktor Cohen legte die Hände leicht zu beiden Seiten der Platte, als wollte er uns damit etwas Zeit zum Nachdenken geben. Er blickte an beiden Seiten den Tisch entlang, erst auf der linken Seite, wo Eleanor mit ihrer Familie saß, dann an der rechten, wo er stolz Saul-der-auch-Chirurg-ist, dessen Frau und ihr Baby betrachtete.
Mrs. Cohen ließ ihr sonnigstes Lächeln in die Runde strahlen. »Wer möchte anfangen?«
Ich war sicher, dass sie alle darauf warteten, von Lulu und mir zu hören, wie dankbar wir den Cohens dafür waren, dass sie uns aufgenommen hatten. Als wären wir zwei Hündchen, die jemand aus dem Tierheim geholt und vor dem sicheren Tod gerettet hatte und die sich jetzt auf den Rücken werfen und ihnen die Bäuche zum Kraulen hinhalten sollten.
Letztes Jahr hatte ich genuschelt, ich sei dankbar dafür, dass alle gesund seien. Lulu hatte gesagt, wir könnten dankbar sein, dass niemand am Tisch Angehörige in Vietnam verloren hatte. Mrs. Cohen hatte genickt, als hätte Lulu den klügsten Satz der Welt gesagt, aber ich wusste, dass Lulu ihnen damit einen Vorwurf gemacht hatte, weil sie so privilegiert waren. Ich hatte mir nur noch gewünscht, meine Schwester möge den Mund halten, ehe die Cohens böse wurden.
Lulu hielt unsere Pflegeeltern für die schlimmste Sorte von Liberalen, stinkreich, taten aber immer so, als wären sie ganz normale Leute. Bald, nachdem wir an unseren neuen Schulen in Manhattan angefangen hatten, wurde Lulu zu dem, was Doktor Cohen als unsere hauseigene Demonstrantin bezeichnete.
Mrs. Cohen machte sich Sorgen, weil Lulu ihre Schlafzimmer-wände mit Boykottplakaten und Emanzipationsslogans bedeckte.
»Ich kann Lulus Überzeugungen gut verstehen«, hatte Mrs. Cohen mir erst neulich erklärt, »natürlich sollten Frauen gleichberechtigt sein, aber ich will nicht, dass sie davon besessen wird.«
Ich glaubte, dass Lulus Rettet-die-Welt-Nummer in Wahrheit eine Die-Cohens-sollen-sich-mies-fühlen-Strategie war. Mrs. Cohen hätte meiner Schwester zu gern hübsche Kleider gekauft und sie zu einem guten Friseur geschickt. Stattdessen trug Lulu ausgefranste Overalls, die an ihrem knochigen Körper
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