Heute Und in Ewigkeit
können wir jetzt also aufhören zu lügen?« Merry biss in einen Apfel, der schon bessere Tage gesehen hatte.
Konnte es ausnahmsweise einmal um mich gehen und nicht um sie? Wo blieb die Wertschätzung dafür, dass ich sie zu mir eingeladen hatte in dem ersten freien Augenblick, den ich nicht bei der Arbeit oder in Drews Armen verbrachte? Ich wollte jede Minute mit Drew zusammen sein. Ich wollte ihn trinken, ihn schlafen und am besten in seinen Körper einziehen. Ich wollte den ganzen Tag in seiner Tasche sitzen.
»Nichts hat sich geändert«, entgegnete ich. »Du darfst es niemandem sagen. Nicht, bis du den Richtigen kennengelernt hast.« Wann würde das sein?
Zumindest sah Merry heute anständig aus. Ihre ordentliche weiße Bluse enthüllte viel weniger als ihr übliches zerrissenes T-Shirt mit irgendeinem Bandnamen darauf. Seit sie angefangen hatte zu arbeiten, war sie ruhiger geworden, obwohl ich annahm, dass ihr bei der Arbeit mit den Opfern von Gewaltverbrechen tagtäglich das freudsche Grauen ins Gesicht schlug.
»Hör auf, mich zu inspizieren.« Merry biss noch einmal kräftig in den Apfel. Merry und ich rannten hungrig durchs Leben. Wir aßen schnell, oft und viel. Gott mochte uns beistehen, falls unser Stoffwechsel sich eines Tages verlangsamen sollte – und da kein genetisches Material mehr vorhanden war, um das abzuschätzen, konnte es jederzeit so weit sein. Merry hatte mir beschrieben, dass unser Vater ein bisschen teigig geworden war – aber ganz ehrlich, wollte ich den Gedanken hegen, dass sein derzeitiger körperlicher Zustand irgendeinen Hinweis auf meine zukünftige Figur gab?
»Hast du wirklich gleich am ersten Abend mit ihm geschlafen?«, bemerkte Merry und nahm sich einen Keks aus der offenen Packung. »Was ist bloß aus Miss Superkorrekt geworden?«
»Sich zu verlieben ist etwas anderes, als mit jedem ins Bett zu springen.« Ich betrachtete die schwarz umrandeten Augen und kirschrot leuchtenden Lippen meiner Schwester und kam mir vor wie eine griesgrämige alte Jungfer, die eine Schülerin tadelt.
Merry ignorierte meine hässlichen Worte. »Und was macht dieser wunderbare Mann?«
Ich lächelte. »Kunst.«
»Er ist Künstler? Maler vielleicht?«
»Gebrauchsgrafiker. Malt Glückwunschkarten und so Sachen. Er will Kinderbücher illustrieren.«
»Er malt Kätzchen für Geburtstagskarten?«, fragte Merry. »Welpen für Mädchen-Briefpapier?«
Es war mir gleich, was Merry über ihn sagte. Ich ließ sie reden und lehnte mich innerlich an die Erinnerung, jede Minute im Bett zu verbringen, wenn ich nicht im Krankenhaus war. Mit Drew. Wo wir Drews FQ erkundeten, und meinen. Sie griffen verdammt gut ineinander.
Zum ersten Mal in meinem Leben lebte ich nicht mehr nur allein in meinem Kopf.
Ich beugte mich vor und legte meiner Schwester die Hand auf den Arm. »Du wirst ihn mögen, Merry«, versprach ich. »Er wird gut zu uns sein.«
Sie entzog mir den Arm. »Warum hast du nicht mit mir geredet, ehe du es ihm einfach so gesagt hast? Mich würdest du umbringen, wenn ich das täte. Warum entscheidest immer du solche Sachen?«
Ich wollte nicht ehrlich sein und ihr sagen, dass ich das bessere Urteilsvermögen hatte. »Er gehört praktisch schon zur Familie. Ich weiß es. Du wirst ihn lieben.«
»Ich will endlich auch dem Richtigen begegnen. Es ist schwer für mich, Daddy jede Woche zu besuchen und das vor allen verstecken zu müssen.«
»Dass du da hingehst, ist deine Entscheidung, nicht meine«, erwiderte ich.
»Warum wirst du jetzt böse? Weil ich auch keine Lügen über mein Leben mehr erzählen will?«
»Es jemandem zu sagen, ist das Gefährlichste, was es für uns gibt. Denk daran, ich passe auf uns beide auf. Eines Tages werden wir Kinder haben, und die brauchen keinen gottverdammten Mörder als Großvater.«
16
Merry: September 198 9
er Sommer war vorbei und mit ihm die Wochenenden mit Quinn, salzigem Sex und Bacardi-Cola an den versteckten, öden Stränden von Maine, die nur die Einheimischen kannten. Der Rum und die Sonne hatten mir erlaubt, die Wirklichkeit für zwei Monate von mir zu schieben. Quinns Frau von mir zu schieben. Der September brachte die ernste Seite des Lebens zum Vorschein. Mein Beruf, meine sogenannte Beziehung und natürlich mein Vater lasteten schwer auf mir, als ich aus dem Bus stieg und mich dem Gerichtsgebäude zuwandte.
Iona war heute meine erste Klientin, und mir graute vor dem Termin mit ihr, denn ich war sicher, dass sie ununterbrochen winseln und
Weitere Kostenlose Bücher