Heute Und in Ewigkeit
meine einzige Hoffnung, Süße.
Grüße und Küss e Dadd y
TEIL DRE I
19
Lulu: Juli 200 2
ch wachte am Montagmorgen vor dem Weckton auf, mit trockenem Mund von der Klimaanlage. Meine ältere Tochter, die zehnjährige Cassandra, stand vor mir, die Arme in die Hüften gestemmt und mit schmalen Augen. Sie sah wütend aus, war aber offenbar nicht verletzt. Der erste Schreck ließ nach, und ich bereitete mich auf die heutige Schilderung der Ungerechtigkeiten im Hause Winterson vor. Schon früh hatte Cassandra ihre Rolle als moralische Instanz der Familie gefestigt. Täglich entschied sie, was fair, gemein oder gerecht war. Ihr aufkeimendes Schauspieltalent machte ihre hysterischen Auftritte in der Familie umso dramatischer. Manchmal bereute ich es, dass ich sie in der Theatergruppe angemeldet hatte, denn sie stürzte sich in die Schauspielstunden wie eine junge Meryl Streep.
»Ruby bekommt alles, was sie will, nur weil sie jünger ist«, sagte Cassandra, ohne mir ein wenig Zeit zum Aufwachen zu lassen. »Du und Daddy, ihr behandelt sie wie ein Baby, aber zu mir seid ihr immer so streng.«
»Was ist denn los?«
»Ruby wollte Pfannkuchen, und ich wollte Waffeln, und Daddy hat gesagt, er wirft eine Münze. Aber sie hat angefangen zu weinen, und natürlich hat das Baby dann bekommen, was es wollte.«
Ich wusste, dass das nur die Oberfläche der Geschichte war, und die Aussicht darauf, den Rest ausgraben zu müssen, erschöpfte mich jetzt schon. »Steig ein, Schätzchen.« Ich hob die Bettdecke an.
Cassandra schlüpfte unter die Decke und holte tief Luft, um ihre Beschwerden aufzuzählen. Meine Tochter roch nach meiner teuren Seife, denn sie fand, dass die uns allen gehören sollte, vor allem ihr.
Ich musste erst um zehn in der Arbeit sein, aber die Mädchen würden bald aus dem Haus gehen, denn Drew hatte für fast jeden Tag der Sommerferien irgendeine Aktivität geplant. Heute war wohl der Strand dran, dachte ich. Drew arbeitete von zu Hause aus, seit wir das Dachgeschoss zu einem Atelier ausgebaut hatten.
Cassandra kuschelte sich an mich. Mein Schlafzimmer hatte eine saubere, kühle Ausstrahlung. Die weißen Landhausmöbel erinnerten mich an Martha's Vineyard. Weiße Fensterläden, meine Sammlung an Porzellanvasen und die durchscheinenden Schüsseln im Bücherregal und auf der Kommode beruhigten mich. Drew hatte die Wände schneeweiß gestrichen und eines seiner Gemälde aufgehängt, das ich besonders mochte: blaue Lilien vor einer so intensiven Sonne, dass sie von der Leinwand herunterbrannte.
»Daddy gibt immer nach, wenn Ruby etwas will«, beklagte sich Cassandra.
»Morgen macht er dir bestimmt Waffeln.«
»Aber ich wollte sie heute haben. Sie ist so eine Heulsuse. Ich glaube, der Schnitt hat gar nicht richtig wehgetan.«
»Was für ein Schnitt?« Ich setzte mich auf.
»Es ist nicht schlimm, Mom.« Cassandra rutschte zur Seite, legte sich auf den Rücken, zog ein Bein an und legte das andere über das Knie. »Es war dumm von Dad, dass er ihr erlaubt hat, die Erdbeeren zu schneiden. Ehrlich, da war gar nichts. Sie hat nur geheult und so getan, damit sie ihre Pfannkuchen bekommt.«
»Ich sehe lieber mal nach ihr.«
Cassandra zupfte an meinem Nachthemd und versuchte, mich zurück aufs Bett zu ziehen. »Sie hat nicht mal geblutet, vielleicht nur einen kleinen Tropfen. Aber für Ruby tun ja alle alles.«
»Das reicht jetzt, Cassandra.« Ich wurde immer ungeduldiger. Ich musste nach Ruby schauen, ehe ich duschte.
»Das ist nicht fair«, jammerte Cassandra. »Niemand ist fair.«
»Was willst du denn?« Ich bemühte mich, meine Stimme ruhig zu halten, obwohl ich wusste, dass ich bereits versagt hatte und meine Gereiztheit in den hübschen weiß-blauen Raum überfloss.
Mutter zu sein, war nie mein Traum gewesen. Ich hatte auch nicht geglaubt, dass ich darin besonders gut sein würde. Siehst du, Drew. Deswegen bist du die Mami, und ich gehe arbeiten. Nicht, dass er je mit mir über diese Arbeitsteilung gestritten hatte. Drew hatte sich mit der Werbekampagne, die mir die Mutterschaft verkaufen sollte, alle Mühe gemacht. Schließlich hatte sein starkes Bedürfnis nach Kindern mich dazu gebracht nachzugeben, obwohl mir die Vorstellung, Mutter zu sein, entsetzliche Angst gemacht hatte. Das tat sie immer noch, und es erwies sich sogar als noch schlimmer, als ich mir je hätte vorstellen können. Ich hatte nicht geahnt, in welchem Ausmaß die beiden von mir Besitz ergreifen würden und dass ich bei jedem kleinen
Weitere Kostenlose Bücher