Heute Und in Ewigkeit
Kaffeestand in der Lobby. Der querschnittsgelähmte Mann mit den mächtigen Armen hatte den Stand an seine Reichweite angepasst, wie es eben bequem für ihn war, als forderte er den Rest der Welt heraus, ob es jemand wagte, sich zu beschweren, weil er sich nach dem Zucker oder der Kaffeesahne bücken musste. Ich bewunderte das Geschick, mit dem er seine Behinderung dazu benutzte, sich durch Erpressung ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen. Niemand wagte es, nichts bei ihm zu kaufen, dank Jerrys Andeutung, dass die Weigerung, einen Muffin, Tee oder ein Sandwich von ihm zu erstehen, auf einen allgemeinen Mangel an Großzügigkeit gegenüber Behinderten schließen lasse.
»Jerry hat sich wahrscheinlich schon eine Villa gebaut«, hatte Maria vom Empfang letzte Woche gebrummt. Dennoch hatte sie dabei einen Keks mit Schokosplittern in der Hand gehalten, den Jerrys Frau gebacken hatte.
»Ich habe heute schon Kaffee getrunken und mein Mittagessen mitgebracht«, sagte ich, als ich an Jerrys Wagen vorbeiging. Zum Beweis hielt ich meine Lunchtasche von LL Bean hoch. »Ich hole mir nachher Kekse für die Besprechung.«
»Wenn wir dann noch welche haben«, erwiderte Jerry düster, als wäre es schlimm, wenn er alles verkaufen konnte, und obendrein noch meine Schuld.
»Ich hoffe eben das Beste.« Damit öffnete ich die Tür zum Treppenhaus und lief drei Treppen hoch zur Inneren Medizin, wo ich in einem breiten, offenen Flur mit industriegrauem Teppichboden und Schildern zu den Abteilungen A, B und C herauskam. Als ich die Abteilung B betrat, winkte mir Maria von der kreisrunden Rezeption her zu und nickte, während sie in ihr Headset sprach. Patienten reckten sich nach meinem weißen Kittel wie mattes Unkraut nach der Sonne.
Haftnotizen umrahmten den Monitor meines Computers. Die Bereichssekretärinnen stopften unsere Postfächer so mit Verwaltungs-Memos und Werbepost von Pharma-Firmen voll, dass wir in unserer Abteilung mittels Haftnotizen kommunizierten oder einander Zettelchen mit unseren Botschaften an den Stuhl klebten.
Die Cabot-Klinik war eine hasserzeugende Riesenpraxis geworden, die uns täglich mit finanziellen Ermahnungen verfolgte: Gesamtergebnis! Denken Sie an die Kopfpauschale! Mehr Patienten in weniger Zeit! Zuwächse, oder ihr fliegt! Ich wartete auf den Tag, an dem die Mediokraten uns befahlen, in Bingo-Sälen auf Patientenfang zu gehen.
Meine Patientenkartei bestand nach einer schleppenden Übergangsphase aus einem soliden Block von Frauen, die ich als beinahe alt betrachtete. Ärzte schienen für diese Frauen im Übergangsstadium wenig Geduld zu haben. Sie taten mir leid. Bald würde ich eine von ihnen sein, und im Gegensatz zu vielen meiner Bekannten versuchte ich nicht, das zu ignorieren. Ich wollte nicht zu diesen Frauen gehören, die von ihrem plötzlichen Absturz überrascht wurden, Frauen, die eben noch schön und nützlich waren, gebraucht und umworben wurden und dann kaum noch Zeit hatten, sich von alledem zu verabschieden, wenn sie ins Rentenalter und die graue Welt der Unsichtbarkeit abglitten.
Ich nahm mir Zeit für die beinahe Alten. Im Gegenzug lobten und umsorgten sie mich, als sei ich ihre persönliche Wundertäterin. Eine ganz Kluge, wirklich gut .
Ich pflückte die Nachrichten von meinem Stuhl und dem Monitor. Eine ziemlich große Post-it-Notiz in Knallpink kreischte mich von der Schreibtischlampe her an.
Wo bist Du? Ich musste ganz allein mit dem Meister der Langeweile Kaffee trinken. Doktor Denton hat mich zwanzig Minuten lang mit tödlich uninteressanten Geschichten über das Gärtnern gefoltert. Bitte komm vorbei, reinige meine Aura und lass Dir von meinem DATE erzählen. Was hast Du morgen an Deinem Geburtstag vor? Darf ich Dich zum Mittagessen einladen? Schau in den Terminplan, da kommen eine Menge Patienten auf dich zu. Sorry.
Küssche n Sophi e
Sophie, die Krankenschwester, mit der ich zusammenarbeitete, war meine beste Freundin geworden, seit Marta um eines reichen Ehemannes willen Boston verlassen hatte. Viele Patientinnen kamen auch hierher, um Sophie zu sehen, nicht nur mich. Sie verstand es, die Menschen zu trösten und in den Arm zu nehmen, wenn sie um ihre verlorene Gebärmutter, ihr erloschenes Sexualleben oder wegen des Haarausfalls weinten, der sie jedes Mal aufs Neue entsetzte, wenn sie in den Spiegel blickten. Die Patientinnen wiederum hielten die Augen offen nach einem passenden Ehemann und Vater für Sophie und ihre drei albtraumhaften Söhne.
»Klingt
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