Heute Und in Ewigkeit
mir. Geh nicht zur Arbeit. Bitte!«
» LULU ?« Merrys greller Schrei durchschnitt das Drama. » DREW ? Ich nehme mir einen Kaffee, okay?«
»In Ordnung«, rief ich nach unten.
Drew drückte Cassandras Knie. »Komm schon, Schätzchen. Du weißt doch, dass Mommy zur Arbeit gehen muss. Außerdem wollten wir eure Freundinnen abholen.«
Ich schlang Cassandra einen Arm um die niedergeschlagenen Schultern und drückte sie kurz an mich, ehe sie ging. »Das kommt wieder in Ordnung.«
»In Ordnung« war mein Motto des Tages. Es war in Ordnung, dass ich diesen Sommer noch keinen einzigen ganzen Tag mit Cassandra verbracht hatte. Es war in Ordnung, dass Merry sich eine Tasse Kaffee einschenkte. Das war an etwa vier von fünf Werktagen in Ordnung, da Drews bereits gebrühter Kaffee üblicherweise den übertrumpfte, den Merry selbst hätte kochen müssen.
Ich machte mir keine Gedanken, weil meine Schwester in Hausschuhen und Schlafanzug aus ihrer Wohnungstür trat, um die Ecke rannte und zu meinem und Drews Eingang wieder hereinkam. In Cambridgeport war man an das Ungewöhnliche gewöhnt. Im Schlafanzug herumzulaufen, brachte uns nicht einmal einen Platz in der Warteschlange zum wahren Spinnertum ein, nicht in dem Viertel von Cambridge, wo Drew, Merry und ich jetzt wohnten.
Die Marionettenfrau, die Holzpuppen mit sich herumtrug und sie für sich sprechen ließ, wohnte links neben uns, und das Haus rechts von unserem gehörte einer platinblonden Dragqueen, schon ohne High Heels über eins neunzig groß. Noch erstaunlicher war, dass wir hier, mitten in Cambridge, sogar einen Republikaner hatten. Er behängte sein Haus mit amerikanischen Flaggen und spielte jeden Abend vor der Haustür den Zapfenstreich.
Nach dem 11 . September des vergangenen Jahres gelangte unsere ultraliberale Nachbarschaft zu einer kurzen Détente mit dem Lokalrepublikaner. Ein paar Wochen lang versammelten sich alle bei Sonnenuntergang vor seinem Haus und hörten zu, wenn er spielte. Jetzt, fast ein Jahr später, behandelten die Nachbarn ihn wieder wie einen verrückten Außenseiter.
Manchmal war ich völlig verblüfft, wenn ich in meiner Rolle als Mutter mit Töchtern aufwachte, als Ehefrau mit Mann, keine virtuelle Waise mehr, die versuchte, sich auf eine Schublade in einem Schlafsaal zu beschränken, sondern Hausherrin, die sich von einem schlichten, wunderschönen Schlafzimmer bis zu einem wohlgeordneten Keller ausbreiten konnte. Obwohl ich schon jahrelang in diesem Haus wohnte, in dieser Identität, wusste ich immer noch nicht recht, wie ich mich so weit strecken sollte, dass ich bis in alle Winkel meiner Welt hinein lebte.
Trotz meiner vielen Besitztümer hatte ich den Verdacht, dass mich in Wahrheit nur Merrys Anwesenheit nebenan stabil hielt. Ich erzählte niemandem davon, aber manchmal krachten die Realitäten meiner Töchter und meines geheimen Vaters, der noch immer in einer Strafanstalt des Staates New York eingeschlossen war, mit einem Donnerschlag zusammen. Mama lebte in mir weiter als die schöne, zornige Mutter meiner frühen Kindheit. Wie meine Beziehung zu ihr wirklich ausgesehen hatte, würde ich meinen Mädchen für immer verheimlichen müssen. Trauriger noch: Wenn ich nach Wegen suchte, eine Mutter zu sein und zu begreifen, was Mutterschaft bedeutete, waren meine Erinnerungen an Mama völlig nutzlos.
Ich fuhr die letzte Rampe zum obersten Parkdeck neben dem Cabot Medical Health Care Building hinauf. Bei den Personalparkplätzen galt die Devise: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – das Überleben des Früheren. Ab zehn vor zehn wurde man ins Sibirien des Parkhauses verbannt, in die letzten Reihen, die hintersten Ecken, wo die Autos Regen, Schnee oder sengender Sonne ausgesetzt waren.
Die Cabot-Klinik lebte von Bosheit und Beschwerlichkeit, von den erbarmungslosen Parkplatzkriegen bis hin zu den haargenau verfolgten Siegen und Niederlagen der Red Sox. Da wir so nahe am Fenway Park arbeiteten, beteten wir stets, sie mögen verlieren, weil uns nur interessierte, dass der wahnsinnige Verkehr dann früher nachließ. Scheiß auf den Wimpel.
Ich war von der Cabot Medical School schnurstracks zur Ambulanz der Cabot-Klinik durchmarschiert. Sie hatten mir einen Job angeboten, und ich hatte ihn angenommen.
Ich eilte zum Treppenhaus, lief die Stufen hinunter und über den heißen Vorplatz zum Eingang aus Glas und Bronze. Treppensteigen war meine einzige sportliche Betätigung.
»Morgen, Doktor Winterson.« Jerry betrieb den kleinen
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