Heute Und in Ewigkeit
toll«, hatte ich gesagt, als Sophie mir wieder einmal etwas von einem geeigneten Neffen einer Patientin erzählt hatte. »Aber erinnere Misses Doherty daran, dass ihr Neffe seine Peitsche und den Löwenbändiger-Schemel mitbringen sollte, wenn er dich abholt.«
Sophie schob den Kopf durch den Türspalt. »Dein zehn Uhr zwanzig wartet, und zehn vierzig steht schon an der Anmeldung. Außerdem musste ich Audra Connelly dazwischenquetschen. Sie hat eine Stelle gefunden und braucht ein Gesundheitszeugnis, ehe sie dort anfangen kann.«
Ich betrachtete meinen Terminplan auf dem Bildschirm, farblich gekennzeichnet dank der Mediokraten von oben. »Wie soll ich das alles schaffen? Kann ich vielleicht hexen?«
»Du bist die Ärztin. Lass dir was einfallen.«
Ich nickte. Audras Ehemann war kürzlich an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Der früher so massige, fröhliche Polizist war klapperdürr und gelb geworden und vor Schmerz regelrecht in sich zusammengesunken. Ich würde mir etwas einfallen lassen. »Wann?«, fragte ich. »Ach, warte – ich sehe es schon.«
Sie hatte Audra um sechzehn Uhr zehn eingeschoben. Ich rieb mir den Nacken.
»Wie sieht's aus mit dem Geburtstagsessen morgen?«, fragte Sophie.
Morgen Geburtstag.
Heute Mutters Todestag.
Merry und mir graute davor, aus diesem Termin eine große Gedenkfeier zu machen, aber wenn wir den Tag nicht auf irgendeine Weise begingen, würden wir das ganze Jahr lang auf die unausweichliche Strafe warten, deshalb gedachten Merry und ich ihrer gemeinsam. In manchen Jahren besuchten wir heimlich ihr Grab und brachten ihr rote Rosen. Meine Mutter war in meinen rauchigen Erinnerungen zu Schneewittchen geworden, mit Lippen von der Farbe frischen Blutes, mit Haar so schwarz wie Onyxkästchen und Haut so weiß wie die einer Geisha.
Aber meistens sahen wir uns zum Andenken an Mama traurige Filme an. So oft hatten wir Mimi Rubee sagen hören Meine Celeste war so schön, dass sie ein Model hätte werden können, ein Filmstar. Als wir noch im Duffy gelebt hatten, hatten wir die Vierteldollars gespart, die Oma Zelda uns manchmal zugesteckt hatte, und uns an Mamas Todestag zu Loews Theater davongeschlichen. Nachdem wir bei den Cohens eingezogen waren, hatten wir diese Tradition beibehalten. Es war uns unmöglich erschienen, die beiden zu bitten, uns an Mamas Grab zu bringen.
Jedes Jahr suchten wir uns den traurigsten Film mit den meisten tragischen Schauspielerinnen aus und gingen im Lauf der Jahrzehnte vom Loews in Brooklyn zu Videos und dann DVD s über. Wir erstickten beinahe vor Schluchzen über Sophies Entscheidung oder Zeit der Zärtlichkeit und fragten uns, wie aufopfernd unsere Mutter gewesen wäre, wenn sie noch gelebt hätte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihren grauen Haaransatz herauswachsen lassen würde, wie die Mutter während der Krankheit ihrer Tochter in Zeit der Zärtlichkeit . Bei dem Gedanken wurde mir übel vor Schuldgefühlen. Es war ausgemacht, dass Merry den Film für heute Abend auslieh. Wir würden ihn uns zusammen ansehen. Sie würde trinken. Wir würden weinen. Dann würden wir schlafen gehen. Alles Gute zum Todestag, Mama.
Bis vier Uhr war der Luxus, eine Patientin zu empfangen, die ich gut genug kannte, um mich hinzusetzen und einen Moment mit ihr zu unterhalten, etwas, das ich den ganzen Tag lang noch nicht genossen hatte. Scheiß auf die Mediokraten. Meine Füße brachten mich um. Mein schmerzender Magen knurrte. Kurzfristig hinzugekommene Patientinnen hatten mich um mein Mittagessen gebracht.
»Audra«, sagte ich, als ich das Behandlungszimmer betrat. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gut, meine Liebe. Ich habe hoffentlich einen Job gefunden.«
»Sind Sie sicher, dass Sie schon so weit sind?« Audras Mann war erst vor vier Monaten gestorben.
»Ganz sicher. Wenn ich noch mehr Abende damit verbringe, allein in den Fernseher zu starren, trete ich irgendwann den armen Bildschirm ein. Ich war ein paar Mal drüben im Ocean View, Sie wissen schon, das Pflegeheim, wo meine Mutter und Hals Vater sind, um ein bisschen auszuhelfen, aber ich glaube, sogar die haben mich allmählich satt.« Audra lächelte mit dem bisschen Lippenstift, den sie durch das ständige besorgte Zusammenpressen der Lippen noch nicht abgewischt hatte. Sie sah dünner aus als beim letzten Mal, und das konnte sie sich nicht leisten, denn sie war eine dieser mageren irischstämmigen Frauen, die kein Gramm zu viel auf den Rippen haben. »Die Kinder kommen zu oft zu
Weitere Kostenlose Bücher