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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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kommt, ist er viel zu langsam. Wie will er laufen mit einem Kind, das auch noch schläft. Vielleicht hat er sich vor dem Überqueren vergewissert, daß keins kommt. Aber nach rechts muß er dem Kind über den Kopf schauen, er kann sich täuschen. Wenn ein Malheur passiert, dann ist er schuld. Hat er doch dem Kind gesagt, bevor es schlief: Mami trägt keine Sonnenbrille, sonst sieht sie nicht, wie blau deine Augen sind. Er geht zur Post. Er trägt das Kind wie ein Päckchen, wenn es nicht wach wird, schickt er es weg. Durch die offene Tür fragt eine alte Frau: Fährt diese Linie zum Markt. Lies doch, was da oben steht, sagt der Schaffner. Ich hab meine Brille nicht auf, sagt sie. Immer der Nase nach, sagt er, wenn der Markt dort liegt, kommen wir hin. Die Alte steigt ein, und der Schaffner fährt los. Ein junger Mann springt noch im Laufen auf. Wie laut er atmet, das nimmt mir die Luft.
     
     
    Ich hatte Lillis Stiefvater am Tisch vor dem Café gesehen. Er wollte mich nicht kennen, aber ich grüßte, bevor er den Kopf wegdrehen konnte. Es sah an diesem Vormittag nach Regen aus, und viele Straßentische waren frei, ich setzte mich zu ihm. An Straßentischen darf man stören. Er bestellte Kaffee und schwieg. Und ich bestellte Kaffee und schwieg. Diesmal trug ich einen Regenschirm am Arm und er einen Strohhut auf dem Kopf. Er sah anders aus als bei Lillis Begräbnis. Da er verschrumpelte Akazienblätter vom Tischtuch in den Aschenbecher warf, glich er Lillis Offizier. Aber seine Hände waren klobig. Als unsere Tassen auf dem Tisch standen und die Kellnerin weg war, drehte er die Tasse mit dem Griff zum Daumen, sie quietschte. An seinem Daumen klebten Zuckerkörner, er rieb sie mit dem Zeigefinger ab, hob die Tasse und schlürfte.
    Der ist dünn wie Damenstrümpfe, sagte er.
    Will er, daß ich an seine Liebe in der Küche denk. Ich sagte:
    Es gibt auch dicke.
    Dann lachte er einen Ton, hob die Augen, als hätte er sich mit mir abgefunden:
    Sicher hat Lilli Ihnen gesagt, daß ich auch Offizier war, das ist lange her. Es ist mir gelungen, ich habe Lillis Offizier im Gefängnis besucht. Ich kannte ihn nicht, nur seinen Namen, von früher. Haben Sie ihn gekannt.
    Gesehen, sagte ich.
    Er hat mehr Glück gehabt als Lilli, sagte er, oder auch nicht, je nachdem. Es steht schlecht um ihn.
    Dann bügelte er ein verrunzeltes Akazienblatt mit dem Zeigefinger, es riß in der Mitte durch, er warf es auf den Boden, verschluckte sich, hustete, räusperte sich und sah in den Aschenbecher und sagte:
    Es wird schon Herbst.
    Darüber kann ich mit jedem reden, dachte ich und sagte:
    Bald.
    Sie fragten beim Begräbnis, wie Lilli ausgesehen hat. Sind Sie sicher, daß Sie es wissen wollen.
    Ich hielt mich an der Tasse, damit er meine Hand nicht zittern sieht. Es fielen immer mehr Tropfen aufs Tischtuch, er schob den Strohhut in die Stirn und ließ sich nicht stören:
    Der Offizier hat ein Vermögen gezahlt. Auf der ungarischen Seite sollte einer mit Motorrad und Beiwagen warten. Der hat auch gewartet, aber eine Woche vorher, auf sein Geld. Dann ist er zur Polizei gerannt und hat sich noch ein schönes Bündel dazu verdient. Sehen Sie, sagte Lillis Stiefvater, dort hinterm Park wird es schon wieder hell.
    Lilli liebte einen Hotelportier, einen Arzt, einen Lederwarenhändler, einen Fotografen. Alte Männer für mich, mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Sie sagte über keinen, er sei alt, sie sagte:
    Er ist nicht mehr ganz jung.
    Alle Männer vor dem alten Offizier standen nicht zwischen Lilli und mir, sie ließen mich gleichgültig. Nur seinetwegen wurde ich vernachlässigt, ich war zum ersten Mal alleingelassen, wie es damals im Kasinogarten aussah, für eine lange Zeit. Ein Dahergeschlurfter, der sein Leben ausgelöffelt hatte, zog Lilli in sein Geschirr. Trauriger Neid wuchs, aber verkehrt herum. Nicht den Alten beneidete ich, sondern Lilli um ihn. Obwohl mir der Alte kein bißchen gefiel. Er hatte etwas an sich, weshalb man bedauerte, daß er einem nicht gefiel. Sogar bedauerte, daß man ihm nicht gefiel. Es war bei dem alten Offizier und mir schade um etwas, das ich weder gewollt noch zugelassen hätte, wenn es gekommen wär. Er war einer, der keinerlei Wunsch weckte und keine Ruhe gab. Deshalb mußte ich von der kugelrunden Abendsonne reden, die auf Lilli zielte, nicht auf ihn. Damit stehe auch ich heute in seiner Abmachung mit ihrem Tod.
    Lilli mochte alte Männer, ihr Stiefvater war der erste. Sie war zudringlich, sie wollte mit ihm

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