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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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schnell hin und her und wir wurden zu laut.
    Dann fuhr mir ein Gehstock am Knöchel hoch, und der alte Mann in Samtschuhen sagte:
    Herrgott nochmal, ist sowas möglich, wenn ihr streiten wollt, dann nicht hier.
    Mir schlug das Herz im Kopf. Ich nahm Luft, um den Ton zu wechseln und sagte, als wär ich die Ruhe selbst:
    Es tut uns leid.
    Ich ließ Nelu dort, wo er war, und ging weg. Auf einem Grab in Lillis Reihe hatte sich die Erde noch nicht gesetzt. Ein neues Holzkreuz und dahinter ein verklebter Teller, und ich konnte es nicht fassen, daß ich mich auch für Nelu entschuldigt hatte.
    Man gibt den Toten auf dem Weg zum Himmel Essen mit, um die bösen Geister zu bändigen. In der ersten Nacht schleicht die Seele hinter deren Rücken an der Hölle vorbei zu Gott. Auch Lilli wird von ihrer Mutter den Teller bekommen. Auf ihrem rechteckigen Erdhaufen werden in der Nacht die Friedhofskatzen fressen. Das Echo auf dem gepflasterten Hauptweg war lauter als das Schaufeln am Grab. Ich hielt mir die Ohren zu und lief ein Stück zum Tor. Daß ich Lillis Liebe zu den alten Männern nicht verstehen wollte, das kam wegen ...
    Am Friedhofstor stand ein Bus. Mein Tata saß am Steuer, er schlief mit dem Gesicht auf den Händen. Nur war mein Tata seit Jahren tot. Ich hatte ihn seither unzählige Male am Steuer ertappt, in fahrenden und stehenden Bussen. Er war gestorben, um ungestört zu fahren, um mir und meiner Mama in allen Straßen zu entkommen, statt sich vor uns zu verstecken. Er fiel vor unseren Augen um und starb. Wir schüttelten ihn, seine Arme baumelten, aber dann wurden sie starr. Die Wangen klebten sich an die Knochen, seine Stirn war aus kaltem Vinilin, eine Kälte, die es an Menschen nicht geben dürfte, weil man sie nicht vergißt. Ich fuhr immer wieder darüber und spreizte seine verdrehten Augen auf, damit Licht hineinfällt und ihn zwingt, zu leben. Jeder Handgriff wurde unanständig. Ich zerrte noch an ihm, Mama ließ von ihm ab, als hätte sie ihn nie besessen. Sein Umfallen führte uns vor, wie man Hilfe abtut und ohne Rücksicht auskühlt. Mama und ich waren von einem Moment auf den anderen abgehängt. Dann kam der Arzt. Er legte Tata aufs Kanapee und fragte:
    Wo ist der alte Herr.
    Mein Opa ist bei seinem Bruder auf dem Land, sagte ich, dort gibt es kein Telefon und einen Briefträger nur ein Mal in der Woche. Mein Opa kommt erst übermorgen.
    Der Arzt schrieb Hirnschlag auf ein Formular, stempelte es, unterschrieb und ging. Mit der Tür in der Hand sagte er:
    Wer soll das verstehen, Ihr Mann ist körperlich gesund, aber sein Hirn hat sich ausgeknipst wie eine Glühbirne.
    Ein Glas Wasser, das der Arzt verlangt und nicht getrunken hatte, stand auf dem Tisch und trieb Bläschen. Beim Umfallen hatte Tata den Stuhl mitgezogen, die Lehne lag auf dem Boden, der Sitz stand senkrecht mit Stoff überzogen, ein rotgrau gezacktes Muster. Mama trug das Glas Wasser in die Küche, ging auf Zehenspitzen und sah über die Schulter zum Kanapee, als würde ihr Mann ein Mittagsschläfchen halten. Sie verschüttete keinen Tropfen Wasser. In der Küche war ein einziges kurzes Geräusch vom Glashinstellen. Dann kam sie ins Zimmer zurück und setzte sich an den Tisch, wo das Glas gestanden hatte. Und dann waren in diesem Zimmer zwei nicht ganz lebendig und einer tot. Drei, die sich schon lange belogen, wenn sie «wir» sagten über sich, und wenn sie «unser» sagten zu einem Wasserglas, einem Stuhl oder einem Baum im Garten.
    So fremd wie damals auf dem Kanapee traf ich Tata seither auf den Straßen. So erkannte ich ihn überall, auch vor dem Friedhof. Das Wort «Transporte» stand auf allen Bussen im Land. Und alle hatten verbogene Treppen, rostige Kotflügel, mehlfeinen Staub auf dem Dach, mitgereist ein halbes Jahr und mehr. Die leeren Sitzlehnen hinter den Scheiben wurden schnell Passagiere, wenn ich sie ansah. Auch an der Windschutzscheibe dieses Busses klebten Sommersprossen, wie Tata zu den zerplatzten, rot und gelb getrockneten Insekten sagte. Diese Frauen in weißen Strümpfen und gestickten Schuhen und diese Männer mit verkniffenen Gesichtern und Gehstöcken waren Lillis Verwandte. Ihr Vater kam aus einem Tal im Hügelland, eine Handvoll Dorf, in dem die Pflaumenbäume um diese Zeit blau angeregnet waren und ihre Äste bogen. Der Fahrer mußte warten, bis Lilli fertig zugedeckt unter der Erde war. Wenn Friedhofskatzen sich um Lillis Seele kümmern, muß er die halbe Nacht mit den übermüdeten Gesichtern seiner Bauern

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