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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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der Wind vom Ast, ist das nicht schön, daß du so dunkle Augen hast, und ich Kirsche heiß.
    In den Flur fiel Sonnenlicht, und an der Decke brannten Neonröhren. So sitzend, waren wir zwei müde Kinder.
    War er im Lager, fragte ich.
    Lilli wußte es nicht.
    Fragst du ihn.
    Lilli nickte.
    Seltsam, aus dem Fabrikhof kam kein einziges Geräusch, und auf dem Flur war es in dem Moment so still, daß man die Neonröhren knistern hörte.
    Heute glaube ich, daß der alte Offizier Lilli suchen mußte, weil seine Abmachung mit ihrem Tod getroffen war, bevor er sie kannte. Daß er, als er Lilli zum ersten Mal sah, wie eine Stoppuhr innehielt: Jetzt habe ich die Richtige. Als Rentner zog es ihn immer noch ins Kasino zu den Uniformen. Seine war abgelegt und in die Haut gewachsen. Im Begehren blieb er Soldat. Er wollte mit Lilli dorthin, wo man ihn, ungeachtet des feingestreiften Sommerhemds, in Uniform wie früher sah. Im Soldatengarten seine Eroberung zeigen, und wenn er mit Lilli allein war, die späte Liebesgier auf eine Spitze treiben, die Lillis Schönheit übertraf. Einer wie er wußte genug über Soldaten, Hunde und Kugeln an der Grenze. Seine Angst, daß der Tod Lilli genauso begehrt wie er, verstieg sich zum Glauben, daß Lilli den Tod einschüchtert, auch für ihn. Er sah zu viel und wurde blind, er riskierte Lilli, die ihm mehr bedeutete, als der Verstand erträgt.
    Jeder, der in die Jahre kommt, denkt an die Jahre zurück. Der Rotzkerl, der Lilli erschoß, glich dem Alten, wenn der zurückdachte. Der Grenzer war ein junger Bauer oder Arbeiter. Oder einer, der wenige Monate danach Student wurde, und später Lehrer, Arzt, Pfarrer, Ingenieur. Seine Sache, was er wurde. Als er schoß, war er einer, der elendig unterm Himmel patrouillierte, während der Wind Tag und Nacht die Einsamkeit pfiff Lillis lebendes Fleisch machte ihn auf der Erde zittern, und ihr totes war ein Geschenk des Himmels, Aussicht auf zehn Tage Urlaub. Vielleicht schrieb er unglückliche Briefe wie mein erster Mann. Vielleicht wartete eine wie ich, die sich mit der Toten zwar nicht messen, aber im Griff der Liebe lachen und streicheln konnte, bis er sich fühlte wie ein Mensch. Er schoß in der Sekunde vielleicht im Namen seines Glücks, und es knallte. Von weitem kam Gebell und dann Geschrei. Lillis Offizier wurde gefesselt, in eine Blechhütte geführt und bewacht von dem Glückserpichten, der geschossen hatte. Lilli blieb liegen. Die Hütte hatte keine Vorderwand. Auf dem Boden stand eine Wasserzisterne, an der Wand eine Bank, in der Ecke eine Tragbahre. Der Bewacher trank viel Wasser, wusch sein Gesicht, zog das Hemd aus der Hose und wischte sich ab und setzte sich. Der Gefesselte durfte nicht sitzen, aber hinaus ins Gras schauen, wo Lilli lag, durfte er. Fünf Hunde liefen, das Gras stand ihnen bis zum Hals, ihre Beine flogen darüber. Und weit hinter ihnen rannte eine Schar abgehetzter Soldaten. Bis sie bei Lilli ankamen, war nicht nur ihr Kleid in Fetzen gerissen. Die Hunde räumten Lillis Körper aus. Unter ihren Schnauzen lag Lilli so rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn. Die Soldaten trieben die Hunde weg und stellten sich in den Kreis. Dann kamen zwei in die Hütte, tranken Wasser und nahmen die Tragbahre mit.
    Das erzählte mir Lillis Stiefvater. Wie ein ganzes Beet Klatschmohn, sagte er, ich dachte in dem Moment an Kirschen.

 
    Das Kind ist in der Sonne eingeschlafen. Der Vater nimmt ihm das Taschentuch weg, die Finger geben nach, der Schlaf geht weiter, obwohl der Vater seinen Arm nach hinten biegt und sich das Taschentuch in die Jacke steckt. Obwohl er die Beine weit auseinander stellt, das Kind mit dem Rücken nach vorne dreht und aufsteht und den aufgesperrten Mund des Kindes an seine Schulter lehnt. Gleich kommt die Haltestelle vor der Hauptpost. Er trägt das Kind zur Tür. Die Straßenbahn steht, ohne das Rauschen ist der Wagen noch leerer. Der Schaffner greift nach dem zweiten Kipfel, dann zögert er und trinkt aus der Flasche. Wieso trinkt er vor dem Essen. Vor der Post steht der große blaue Briefkasten, wieviele Briefe haben darin Platz. Wenn ich ihn füllen sollte, würde er nie geleert. Seit den Zetteln für Italien hab ich keinem Menschen mehr geschrieben. Nur hie und da einem was erzählt, reden muß man, schreiben nicht. Der Schaffner ißt seinen zweiten Kipfel, den Krümeln nach muß er inzwischen trocken sein. Draußen geht der Vater mit dem schlafenden Kind über die Straße, wo kein Zebrastreifen ist. Wenn ein Auto

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