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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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zu den Pflaumenbäumen fahren.
    Als ich aufs Lyzeum ging und noch bei meinen Eltern in der Kleinstadt wohnte, fuhr ich abends gern mit meinem Tata im leeren Bus die letzte Runde zum Depot. Wir mußten nichts reden im Halbdunkel der Straßen, der Bus klapperte. Die Sitze, Türen, Haltestangen, Treppen, alles saß locker, aber der Bus fiel nicht auseinander. Nach den vielen Touren zog Tata jeden Abend die wichtigsten Schrauben an und reparierte den Motor für den nächsten Tag. Bei der letzten Runde tutete er an den Ecken und fuhr bei Rot über die Kreuzungen. Wir lachten, wenn es knapp wurde und die Lichter eines Lastautos beim Ausweichen zu nahe kamen. Wenn wir am Depot waren, ließ er mich am Eisentor aussteigen. Ich ging nach Hause, er fuhr aufs Gelände, er hatte noch zu tun und kam anderthalb Stunden später.
    An einem Abend flog mir auf dem Heimweg durch die Allee eine Fliege ins Auge. Ich blieb unter einer Straßenlaterne stehen, zog mir das Lid übers Auge herunter und hielt es an den Wimpern fest. Dann schneuzte ich mich. Mein Opa kannte dieses Rezept aus dem Lager. Ich hatte es richtig gemacht, die Fliege klebte nach dem Schneuzen im Augenwinkel, ich wischte sie weg. Das Auge tränte, ich brauchte ein Taschentuch. Da merkte ich, daß meine Handtasche im Bus geblieben war. Tata hat nur seinen Motor im Kopf, er wird sie nicht sehen. Ich kehrte um.
    Ich kam von der Seite auf das Gelände, ich kannte mich aus, aber nicht im Dunkeln. Daher hielt ich mich ans Hauptgebäude, wo neben den Treppen der Veranda eine verschnörkelte Schirmlampe brannte. Ich fand den Bus rasch, neben dem Vorderrad lagen zwei leere Weidenkörbe im Gras. Und auf dem Beifahrersitz hing ein Zopf, der baumelte. Dann sah ich Wangen, eine Nase, einen Hals. Mein Tata küßte den Hals, er saß unter der Frau. Sie hob den Kopf, als würde sie dem Hals nach zur Decke steigen. Ihren Rücken bog sie wie eine Rute. Ich kannte die Frau, sie war mit mir in die Schule gegangen, in eine andere Klasse. Sie war so alt wie ich. In den drei letzten Jahren, seit ich aufs Lyzeum ging, verkaufte sie Gemüse auf dem Markt. Ihr Zopf schlug hin und her, bis Tata ihren Mund auf seinen drückte. Ich wollte weglaufen wie ein Wind und ewig schauen in einem. Um die Schirmlampe drehte sich ein Mückenschwarm wie ein genetztes Tuch. Die Pappel war bis zum Dachrand ein Baum. Darüber, wo die Dachrinne das Licht abschnitt, ein schwarzer Turm, der wiegte sich und rauschte. Aber lauter waren die Grillen, vom Gras bis in den Himmel, damit ich Tatas offenen Mund nur sehe, nicht höre. Ich wußte nicht, seit wann ich da stehe, und wielange diese Sünde dauert. Ich wollte rechtzeitig nach Haus, in gebührendem Abstand vor ihm zu Hause sein. Im Zaun hinter dem Hauptgebäude war ein Loch, das war der kürzeste Weg.
    Auf der Straße zerflossen die Stockwerke der Allee im Licht. Die dicken Stämme waren mit Kalk geweißt, schimmerten und torkelten, oder ging ich nicht gerade. Nach dem, was ich gesehen hatte, war es nicht erlaubt, sich zwischen Bäumen vor der Nacht zu fürchten. Außerdem wußte ich, daß an grellen Tagen die weißen Grabsteine auf der Kinderseite des Friedhofs in der Sonne genauso torkeln wie die geweißten Baumstämme nachts bei Mond. Denn auf dem Friedhof hinter der Brotfabrik lag der Junge mit den Staubschlangen. Wenn die Stunden der Hundehitze brannten und draußen herumzulaufen für Kinder nicht ratsam war, wurde sein Stein genauso besoffen wie die Allee in der Nacht. Die Steine um ihn herum wankten, besonders die Grabbilder, auf denen Kinder Schnuller im Mund und Stofftiere in den Händen hielten. Der Junge mit dem größten Grabstein saß im Nacken eines Schneemanns.
    Bevor ich zur Welt kam, hatten meine Eltern einen Jungen, der vom Lachen blau anlief. Er wurde kein richtiger Sohn, starb vor der Taufe. Guten Gewissens konnten meine Eltern sein Grab nach zwei Jahren aufgeben. Erst als ich acht Jahre alt war, und in der Straßenbahn vor uns ein Junge mit abgeschürften Knien saß, sagte meine Mama mir ins Ohr:
    Wenn dein Bruder gelebt hätte, wärst du nicht gekommen.
    Der Junge lutschte eine Ente aus gebranntem Zucker, sie schwamm in seinen Mund hinein, heraus, und die Häuser fuhren hinter den Scheiben schief hinauf Ich saß auf einem grün gestrichenen, heißen Holzsitz neben Mama in der Straßenbahn anstelle meines Bruders.
    Von mir gab es zwei Fotos aus dem Entbindungsheim, von meinem Bruder kein einziges. Auf dem einen Bild liege ich neben Mamas Ohr auf

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