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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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dem Kissen. Auf dem anderen mitten auf einem Tisch. Beim zweiten Kind wollten meine Eltern ein Bild haben für sich und eines für den Grabstein.
    Um mich auf dem Heimweg vom Depot vor geweißten Baumstämmen zu fürchten, war ich zu alt. Aber ich fühlte mich von meinem Tata mehr herabgesetzt, als von Mama damals in der Straßenbahn. Ich bin feiner als die mit dem Zopf, dachte ich, warum nimmt Tata nicht mich. Sie ist dreckig, ihre Hände sind grün vom Gemüse. Was will er mit ihr, sie hat einen guten Mann. Wenn ich morgens zum Lyzeum fahre, seh ich ihn. Er ist jung, die schweren Körbe trägt er von der Bushaltestelle zum Markttisch, und sie nur eine Plastiktüte. Und sie hat ein geduldiges Kind, das unterm Betondach hinter ihrem Tisch auf einer umgestülpten Holzkiste mit einem dreckigen Stoffhund spielt, damit die Zeit vergeht. So dumm bin ich, kaufe vorgestern einen Arm voll Meerrettich von ihr. Sie steckte das Geld in eine große Schürzentasche an den Bauch und strich dem Kind übers Haar. Sie wußte, wer ich bin und dachte bestimmt an die Sünde. Ich sah an ihrer Oberlippe einen frischrot aufgeblühten Herpes und kam nicht darauf, daß sie den von meinem Tata hat. An seinem Mund war er am Abklingen, frischrot vor zwei Wochen. Aber wie gern sie das Kind mit seinem dreckigen Stoffhund zu Haus gelassen hätte, um sich beim Anbrechen der Nacht mit Tata zu vergnügen, sah man ihr nicht an.
    Tata kam mit meiner Handtasche auf der Schulter nach Hause, legte sie vor mich hin und fragte:
    Sag mal, seit wann bist du so leichtsinnig.
    Wer ist leichtsinnig, fragte ich zurück.
    Er spielte taub, setzte sich am Tisch ins helle Licht und wartete aufs Essen. Er schnitt die Salami fingerdick und aß vier feuerscharfe spitze Paprika, die er mitgebracht hatte, wahrscheinlich von ihr. Womöglich hat er die auch noch bezahlt. Und zu alldem aß er sechs Scheiben Brot und eine Handvoll Salz. Die Langzöpfige zehrt ihn regelrecht aus. Vielleicht floß ihm von dem Benzingeruch im Bus das Blut zu schnell ins Herz und drängte ihm den Schneid auf, wie damals im Krieg. Mein Opa hatte mir ein kleines Bild gezeigt und gesagt:
    Da ist sein Panzer.
    Und wer ist das, fragte ich.
    Im Gras neben Tata lag eine junge Frau, barfuß, die Schuhe neben einem Strauch, weit auseinander hingeschleudert, zwischen ihren Waden blühte Löwenzahn, auf den Ellbogen gestützt hob sie den Kopf.
    Ein musikalisches Mädchen, sagte der Opa, die spielte auf seiner Flöte. Im Krieg hat sich dein Tata an allem vergriffen, was Eierstöcke trägt und nicht Gras frißt. Nachher kamen ständig Briefe. Die hab ich alle zerrissen, damit deine Mama nichts sieht. Ich hab mich gewundert, wie schnell er deine Mama genommen hat. Sie war unscheinbar, aber den Schneid hat sie ihm abgekauft, sie hatte ihn sofort im Griff.
    Noch zehnmal fuhr ich abends mit ihm ins Depot, ich zählte die Runden an den Fingern. Ich faßte Tata am Arm an, am Knie, er schaute nur auf den Weg. Ich faßte ihm ans Ohr, er sah lächelnd her, dann nur noch auf den Weg. Ich legte meine Hand auf seine ans Steuer. Er sagte:
    So kann man nicht fahren.
    Das letzte Mal ließ ich ihn an einer Birne beißen, die ich groß angebissen hatte. Er sollte sich nicht mit der dicken, gelben Schale abmühen. Er kaute und schmatzte, hatte schaumigen Saft an den Zähnen und schluckte mit abwesenden Augen. Tata schmeckte es, und ich aß nur, um ihn zu ködern. Als ich nicht mehr essen konnte und er den Mund her drehte, um noch einmal zu beißen, sagte ich:
    Behalt sie ganz, ich will nicht mehr.
    Er hätte ja fragen können, warum. Er tutete an den Ecken, weil er sich auf die Langzöpfige freute. Er jagte seinen Bus über die roten Ampeln, weil er es eilig hatte, nicht weil wir lachen konnten.
    Auch nach der zehnten Runde öffnete er vor dem Tor des Depots die Bustür mit einem Schwung, der schon seiner Sünde galt. Er hatte auch das Gehäuse der Birne gegessen, warf den Stiel, bevor ich ausstieg, zur Tür hinaus. Er wartete auf fremdes Fleisch.
    Danach blieb ich jeden Abend zu Hause. Er hätte ja einmal fragen können, ob ich nicht wieder mitfahren will. Die zehn Finger waren durchgezählt, aber man hätte mit dem Zählen noch einmal beginnen können. Vielleicht würden Zigaretten besser wirken als meine Hände oder eine angebissene Birne. Ich hätte ihm beibringen können, wie man den Rauch auf die Lungen zieht. Er blies den Rauch durch den Mund und rauchte nur, um mit ausländischen Zigaretten aufzuschneiden. Die konnte

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