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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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Tata sich nicht leisten, er rauchte selten, aber es stand ihm gut. Ich pflückte mir, während er allein die letzte Runde fuhr, aus sackdunklen Bäumen neben dem Zaun einen Pfirsich und setzte mich auf die Gartenbank. Die Grillen zirpten das Lied von einem Bus, der sich abends unter vier Augen und sündigem Fleisch in ein Bett verwandelt. Eigentlich unter sechs Augen. Ich aß und schluckte, damit es ein Geheimnis blieb.
    Als ich von meiner letzten Fahrt, auf der die Birne nichts bewirkt hatte, nach Hause kam, fragte Mama: Hast du geweint.
    Ja, ich hatte.
    Ein Hund, der an den Mülltonnen herumstrich, ist mir von der Allee bis zur Brotfabrik gefolgt, erzählte ich. Mama sagte:
    Der ist läufig und du hast ihn erschreckt.
    Du denkst nur an läufig, schrie ich, der ist ausgemergelt und verblödet vor Hunger.
    Mein Herz wurde so hart, hätte sie erschlagen, wenn ich damit geworfen hätte. Mir trocknete die Zunge, so sehr haßte ich sie, als sie, ohne sich zu schämen, hinzufügte:
    Ach, deshalb habe ich draußen das Jaulen gehört.
    Draußen war, wie immer, wenn es im dürren Sommer Nacht wurde, nur Grillengezirp von der Erde zum Himmel. Aber kein einziger Hund. Sie schmückte meine Lüge aus mit dem Erschrecken eines läufigen Hundes. Sie log, damit ich in meiner Not nicht doch noch sagen kann, daß mein Tata läufig ist, daß ich ihn hätte erschrecken können, wenn ich gewollt hätte.
    Wie oft hab ich lügen oder das Maul halten müssen, damit die Allerliebsten, gerade wenn ich sie nicht leiden kann, ihrem Unglück nicht begegnen. Wenn ich mir wünschte, daß mein Haß ewig hält, weichte der Ekel ihn auf. Zwischen einem Hauch von Liebe und einem Haufen Selbstvorwürfen ergab ich mich schon für den nächsten Haß. Um andere zu schonen hat mir immer der Verstand gereicht. Aber nie, wenn es um mein eigenes Unglück ging.
    Eines Abends zog Mama das Sommerkleid mit den dicht gereihten Perlmuttknöpfen und dem waghalsigen Schlitz am Hintern an, kämmte sich das Haar zu einem schiefen Giebel, steckte Drahtspangen darunter und schob sich einen Karamelbonbon in den Mund. Immer, wenn sie beim Herausputzen Bonbons lutschte, hatte sie etwas Delikates im Sinn. Sie zog die weißen Sandalen an und sagte:
    Jetzt ist es draußen kühl nach diesem heißen Tag. Ich geh ein wenig in die Allee.
    Ich weiß nicht, ob sie in diesem engen Kleid durch die Zaunlücke schlüpfen konnte. Als sie auf dem Depotgelände ankam, reparierte ihr Mann die Kühlung des Motors. Er muß sich, wie Lilli sich ausdrückte, im Zaum gehalten haben, als er den waghalsigen Schlitz, die Frisur und die weißen Sandalen sah. Er setzte sie vielleicht hinters Steuer und ließ sie warten, bis der Kühler fertig war. Im Schimmer der weißen Stämme und Sandalen kamen sie eingehängt nach Hause. Beim Nachtessen sagte sie:
    Das bezahlt dir doch niemand, daß du nach dem langen Dienst jeden Abend auch noch reparieren mußt.
    Wieso, ich fahr die meisten Touren, sagte er, dafür kriege ich die Prämie nach Neujahr, wofür denn sonst.
    Mama hob die Augenbrauen, stand sogar von ihrem Stuhl auf und schnitt das Brot für sich und ihn, wo doch Laib und Messer neben seinem Teller lagen. Wir mußten es uns selber schneiden, mein Opa und ich.
    Nach Tatas Tod stellte meine Mama wie selbstverständlich einen Teller weniger auf den Tisch. Sie hatte den gleichen Appetit, und, wie es aussah, einen besseren Schlaf. Ihre Augenringe verschwanden. Sie wurde nicht jünger, aber sie blieb stehen und die Zeit verging. Gleichgültigkeit macht außen nachlässig, so war sie nicht. Eher innerlich verwildert, entweder stolz vor Einsamkeit, oder vor Losgebundenheit nicht mehr bei sich. Nicht froh, nicht traurig, abseits von wechselnden Gesichtsausdrücken. Ein Glas Wasser war lebendiger als sie. Sie ähnelte dem Handtuch, wenn sie sich abwischte, dem Tisch, wenn sie ihn abräumte, dem Stuhl, wenn sie sich hinsetzte. Nachdem mein Tata ein Jahr tot war, meinte der Opa:
    Du hast doch Zeit, geh doch öfter in die Stadt, vielleicht triffst einen Mann, der dir gefällt. Und für die Arbeit im Hof wär ein Jüngerer als ich nicht schlecht.
    Wenn ich das täte, müßtest du es verbieten, sagte Mama, mein Mann war doch dein Kind.
    So bin ich aber nicht.
    Du hast doch auch nicht mehr geheiratet.
    Ich nicht, aber dein Mann ist nicht im Lager umgekommen, sagte Opa.
    Es war umsonst, Mama kämmte sich keinen Haargiebel mehr und hängte das enge Kleid mit dem Schlitz am Hintern für immer in den Schrank. Sie

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