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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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nervös, schaute, ob Haare im Kamm hängen, steckte ihn in die Gesäßtasche. Er schlug auf den Tisch und stand vor mir. Meine Nase stieß er auf das leere Blatt, am Ohr zog er mich vom Stuhl hoch, das brannte wie Glut. Dann fuhr er mir an der Schläfe ins Haar, drehte es schief hinauf um seinen Zeigefinger und zog mich wie an einer Quaste durchs Büro, bis zum Fenster und zurück auf den Stuhl. Und als ich wieder vor dem Blatt saß, schrieb ich:
    Marcello.
    Ich biß mir auf die Lippen, außer Mastroianni und Mussolini fiel mir kein Name ein, und die kannte auch er. Den Familiennamen kenne ich nicht.
    Und woher kennst du diesen Marcello.
    Vom Meer.
    Wo vom Meer.
    Aus Konstanza.
    Was hast du dort gesucht.
    Den Hafen.
    Den verdreckten Hafen, und er.
    Er war von einem Schiff.
    Wie hat das Schiff geheißen.
    Ich hab es nicht gesehen.
    Kein Schiff gesehen, sagte er, aber seine Uniform.
    Er trug normale Sommersachen.
    War aber Matrose, das hast du gerochen.
    Er hat es gesagt.
    Albu wußte, daß ich lüge, und zwang mich dazu, und ich glaubte mir vor Einsamkeit. Dann legte er den zerknabberten Bleistift in die Schublade, sah hinein, bevor er sie schloß, und sagte:
    Geh nach Haus und denk nach. Bis morgen Punkt zehn, aber Punkt. Die Zettel für Frankreich und Schweden sind ja auch noch da. Da haben wohl noch andere mitgeschrieben, da kommt was ganz Dickes zusammen. Punkt zehn.
    Zettel für Frankreich, das hörte ich zum ersten Mal. Hat Nelu ihn angelogen oder sogar zweimal Zettel geschrieben oder ein Mädchen aus der Verpackungshalle. Hat Albu sie in seiner Schublade, und wird sie morgen zeigen. Oder sagt er mir, bevor ich geh, etwas Erfundenes, damit ich halb verrückt werde bis morgen. Meine Zunge wurde kalt, nimmt das nie mehr ein Ende.
    Als ich wieder auf der Straße ging, war die Sonne schon rot ausgelaufen, alles fertig plaziert für die Nacht, jeder Schatten in der Stadt hatte sich hingelegt. Ich trug mein Gewimmel im Kopf, darüber lockere Kopfhaut, und das Haar darauf trug der Wind. Er ist zum Fliegen gemacht, die Ampeln zum Leuchten, Autos zum Fahren, Bäume zum Stehen. Ist darin ein Sinn oder nur eine Beschäftigung. Mir ging süßlich die Zunge durchs Hirn, ich sah einen Kiosk und bildete mir ein, daß ich hungrig bin oder sein müßte. Ich verlangte ein Stück Mohnkuchen, griff in die Handtasche nach meinem Portemonnaie. Da stieß meine Hand an hartes Papier, das gehörte mir nicht. Ich ging die paar Meter zu einer Bank, legte den Kuchen auf meinen Schoß und nahm das Papier aus der Tasche. Ein Packpapierbonbon, gelbgrau, seine Enden fest zugedreht, etwas Hartes drin, locker eingewickelt. Ich öffnete das Päckchen und strengte meine Augen an. Was ich sah, war keine Zigarette und kein Ast, keine Petersilie, kein Vogelzeh, es war ein Finger mit schwarzblauem Nagel. Ich stopfte ihn rasch in die Tasche zurück. An der Hinterseite des Kiosks schlüpften Lichtstrahlen durch die Bretterritzen, ich hielt mir den Mohnkuchen vor den Mund, als würde ich eine Kranke füttern. Der Kiosk rutschte auf mich zu, an den Lichtstrahlen nach vorn gezogen. Ich kaute langsam, Zuckerkörner knirschten mir bis in die Stirn, ich dachte an nichts, oder alles auf einmal ging mich nichts an. Ich war ja gesund, und den Kuchen aß eine Hinfällige, sie glaubte, essen zu müssen und aß um ihr Leben. Und ich redete ihr ein, daß es ihr schmeckt, bis nichts mehr von dem Mohnkuchen in meiner Hand war. Dann wickelte ich den Finger ins Packpapier, drehte seine Enden wieder zu, aber ich war innen aufgetrennt. Der Tod, mit dem man hie und da liebäugelt, um ihn zu verscheuchen, konnte sich vorwagen, ein Datum auskundschaften, falls es nicht eingekreist bei Albu im Kalender stand. Der Kiosk blieb stehen, die Bank blieb leer, ich ging und ging. Ich sah die mageren und fetten Tode mit Vollhaar und Scheiteln, mit Haarkränzen und Glatzen mein Datum suchen in der Stadt. Ich sah zugeknöpfte und offene Hemden, lange und kurze Hosen, Sandalen und Halbschuhe, Tüten, Taschen, Netze, leere Hände. Ganz unterschiedlich halfen die Passanten dem Tod mein Datum suchen.
    An fünf Laternenstangen ging ich nah heran, schaute in die Müllkörbe, zwei davon waren halbleer. Müll wirft man schnell und achtlos weg. Der Nagel des Fingers war schwarz, seine Haut vertauscht mit kaltem Vinilin. Wie lange war der Finger in meiner Tasche unterwegs. Ausgerechnet ich sollte ihn wegwerfen. Der Sommerasphalt stank nach heißem Teer, mich ekelte der Mohnkuchen, die Abendluft,

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