Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
das Schilf, die Weidenbüsche am Fluß. Das Wasser leckte daran und gluckste, aber tief genug war es nicht. Ein paar Spaziergänger in den Abend getaucht, in die andere Richtung gingen sie, mit den Köpfen nach unten, die einzelnen doppelt, die Paare zu viert gegen fließendes Wasser zur anderen Brücke. Und auf der Brücke am Geländer, wo einmal der papiergefüllte Koffer stand, war der Ort für den Finger. Ich wollte nicht und ging hin, hielt das Päckchen übers Wasser und ließ es fallen. Es behielt sein Papier und schlug auf. Das Wasser gab nach, schwenkte hin und her und wollte es nicht schlucken. Ein ganzer Mensch wär dem Fluß lieber gewesen. Mir war das eine Stückchen zu viel, und daß ich nicht wußte, wem es gehört. Ob der ganze Mensch tot war, oder nur sein Finger.
Albu erwähnt den Finger nie. Ich auch nicht. Diese durchsichtige, lauernde Vergeßlichkeit am nächsten Tag um Punkt zehn. Bei jedem Handkuß blinzelt sie, bis heute. Seit dem Finger geh ich bei Albu nicht mehr aufs Klo.
Mich macht der Ekel weich, nur wenn ich andere damit anstecken will, werd ich hart. Einem Menschen erzählte ich von dem gelbgrauen Packpapierbonbon, Lilli. Nach drei Tagen bei Albu war ich den ersten Tag wieder in der Fabrik. Niemand hat gefragt, wo ich gewesen bin. Nelu füllte die Zeit mit diebischen Blicken, Kaffeekochen, Lüften und Papierstapeln. Ich hatte schon eine Meinung zu den Knopfmodellen, die er mir nachmittags im Halbkreis auf den Schreibtisch legte. Aber sagen konnte ich nicht, daß die weißen so schön wie Zahnschmelz sind, die braunen wie halbe Nußschalen, die grauen wie Regen im Staub.
Nach der Arbeit saß ich mit Lilli im Café und erzählte ohne Umschweife. Ich ließ die Schalen ganz weg, ich fing mit dem Kern an. Darum kringelte sich Lilli eine Haarsträhne um den Zeigefinger und rückte den Stuhl von mir weg. Unauffällig, glaubte sie, aber die Lücke, ich war ja nicht blind. Diese kleinen, bösen Augen, die sie auf mich losließ, als sie fragte:
Bist du sicher, daß es ein Menschenfinger ist.
Die störrischkalte Tabakblüte, die wollte nicht vom Ekel angefressen werden. Ich machte die Hand am Tischrand zur Faust und streckte den Zeigefinger auf den Tisch.
Na, was ist das.
Zieh den Finger ein, sagte sie.
Kann man es verwechseln.
Ich hab gesehen, hol den Finger heim.
Was hast du gesehen, eine Zigarette oder einen Vogelzeh.
Muß ich es sagen, oder kannst du dich begnügen, wenn ich es glaube.
Ach so, du glaubst mir. Hab ich ein Glück, daß du so gnädig bist.
Weil auch ich so gnädig war, und Lilli nicht mehr quälen wollte, zog ich den Finger ein und fragte nicht, was sie denn meint, ob eine Katze an den Mülltonnen einen Finger fressen würde. Fragte nicht, in wieviel Zeit ein Nagel schwarz wird. Und ich sagte Lilli auch nicht, wie ich mich fürchte, vor dem Fingerhut, der mit hohen, schlanken Stielen in den Gärten blüht. Auch daß ich mir im Ekel meines Mohnkuchens vorgenommen hatte, Albu sein Päckchen zurückzugeben, behielt ich für mich. Und daß ich, als es im Fluß schwamm, glaubte, Punkt zehn morgen früh verlangt er es zurück.
Ich hab mir im vergangenen Winter in der Alimentara neben der Fabrik ein kleines Glas saure Gurken gekauft, sagte Lilli, und sie in zweimal gegessen. Die letzten habe ich mit der Gabel aus dem Glas gefischt. Und auf der Gabel war eine Gurke und dann eine Maus. Ist das nicht gräßlicher als ein Finger.
Die Maus ist doch von allein in die Gurken gelaufen, sagte ich. Und wenn sie jemand in der Konservenfabrik mit Absicht ins Glas getan hat, war es nicht für dich. Jeder hätte doch die Gurken kaufen können.
Jeder hätte können, aber ich hab sie gekauft.
Als ob sie Albu verteidigen wolle, fuhr sich Lilli im Nacken durchs Haar. Da stand es nun aufgebauscht, und wir schwiegen und hielten einander das Gesicht hin, aber nicht die Augen. Aus nichts heraus sagte Lilli:
Morgen muß ich unbedingt die Stromrechnung zahlen.
Lilli und ich hatten uns angewöhnt, nebeneinander her länger zu schweigen, als es unauffällig war. Und wenn die eine das Reden wieder anfing, sagte sie irgend etwas. Wenn man sich gut kennt, bedeuten die Maus nach dem Finger und das Schweigen nach der Maus und die Stromrechnung nach dem Schweigen dasselbe. Weiterreden, über etwas, das man nicht sagt. Im Gesicht sind Stirn und Mund ja auch, so weit es geht, auseinander.
An den Holzhäuschen des Flohmarkts standen zwei Warteschlangen, und ein junger Polizist paßte auf, daß niemand
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